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Bratkartoffeln mit zwei gebratenen Landeiern

Fotos: Carla Tannert / Text :  EddaWinkel

01.09.2013

Das Landei ist meine Freundin Carla. Den Namen hat sie von meinem verstorbenen Mann Peter, weil Carla unsere Mode als Landhausstil kennzeichnete.

Ich schicke Tochter Antje ein „Busfoto“ und sie beschwert sich: „Mensch, ein Foto von der Ostsee!“

Carla sieht mich gleich, als ich aus dem grünen Fernreisebus klettere. Wir umarmen uns und schon bugsiert sie uns mit ihrem Skoda geschickt bis zum Volkstheater. Dort begrüßen wir ihren Bruder Fiete am Malerstand. Es ist Tag der offenen Tür. Wir schnuppern ins Theater hinein. Die alten Wandelgänge, in denen wir in den Pausen im Kreis spazierten, erkenne ich kaum wieder. Ich erinnere mich an meinen ersten Besuch - die Verkaufte Braut. Im Anrechtsbetrieb ging es dann quer durch den Garten von Tannhäuser bis zu Otto Mellis als Ferdinand. Heute steht eine Gruppe schwatzender junger Mädchen herum. Von Zeit zu Zeit reckt sich eine, streckt sich, dreht eine Pirouette, Balletteusen.

Weiter geht’s. Schnell noch ein Foto für Antje von ihrem Geburtshaus, der Frauenklinik. Sie bedankt sich, fordert aber weiter: „Wasser will ich sehen!“ Na da wollen wir uns nicht weiter nötigen lassen und schicken ihr ein Foto von meiner Wasserflasche. „Ihr verrückten Weiber!“, beschimpft sie uns.

In Ribnitz fahren wir den Marktplatz an, um über die Touristeninformation an die richtige Schlüsselabholstelle für unsere Ferienwohnung zu kommen.

Körkwitz kommt in Sicht, wir drehen eine Runde, ich zeige Carla das Haus meiner Vorfahren. Die Fischerkate am Bodden hat sich zu einem ansehnlichen Haus gemausert und auch die Linde, die das alte Wahrzeichen ersetzen musste, hat bereits stattliche Form angenommen. In Dierhagen wird die Ferienwohnung in Augenschein genommen. Wind geht und das Rauschen des Meeres ist nah, also auf zum Strand.

Im Schaukasten am Pfannkuchenhaus an der Ecke hängt die Speisekarte. Bratkartoffeln mit 2 gebratenen Landeiern, lesen wir, lachen laut und ziehen verwunderte Blicke auf uns. Damit steht unser Abendbrot für heute fest.

Außer der Verpflegung für eine Woche kaufe ich im Einkaufszentrum einen Riesenstockschirm zur Unterstützung meiner lahmen Beine.

Carla lacht über eine dicke Dame im Seidenhemdchen.

Das erhoffte Erlebnis Sonnenuntergang wird behindert. Der Seewind fährt uns durch Kleidung und Haut bis ins Gedärm. Die Sonne verkriecht sich hinter Wolken und blinzelt uns am Ende nur durch einen Schlitz über dem Wasser zu. Außerdem muss sich auch noch ein großes Schiff daran vorbeidrücken. Es dunkelt.

Im warmen Zimmer bei neumodschen alkoholischem Hugo (Holunderblüte mit Minze) bereden wir den Tag und philosophieren über das Leben. Carla zitiert einen Freund: „Man kann zwischen Liebe und Angst wählen, also nicht Liebe und Hass, sondern Liebe und Angst. Wenn man sich für´s erste entscheiden kann, gelingt es.“

 

02.09.

Sturm und Regen die ganze Nacht. „Wie hast du geschlafen?“ fragt Carla. „Ganz gut, ich konnte allerdings nachts irgendwann nicht wieder einschlafen.“ „Ja, und da hast du gelesen,“ sagt sie. Woher weiß sie das? „Ich habe gehört, wie du die Seiten umgeblättert hast!“ Sie wohnt oben und hört schwer, musst du dazu wissen.

Ich beginne den Tag schreibend mit einem Pott Kaffee, wenn Carla herunter kommt kriegt sie auch einen, ich lese vor und sie übernimmt auf ihren Laptop.

Beim Frühstück, das Carla mit der Frage, „möchtest du einen Zweitkaffee?“, eingeläutet hat, hören wir Gioseppe Giordani „Caro mio ben.“

Gestern auf dem Wustrower Handwerkermarkt gab es von Bernstein aus Polen über Olivenhölzereien aus Tunesien, Hornschmuck von afrikanischen Rindern, Heringsdorfer Silberschmuck bis zu Filzwollgebilden für Kopf, Hals und Hände aus der Lüneburger Heide vielseitige Handwerkskunst.

Im Restaurant an der Seebrücke wundern wir uns über die Absonderlichkeiten einiger Leute – alte Dame in kurzen Hosen, großem gelben Hut auf Zottelhaar, redet pausenlos auf ihren Nachbarn ein. Carla lacht, weil ich sage: „Sie kommt nicht zum Punkt, weil es keinen Punkt gibt.“ Wir sind albern wie pubertierende Weibchen.

Besuch der Kunstscheune am Bodden, mich begeistern die filigranen Figuren von Jo Jastram.

Auf dem Rückweg steuern wir Evas Häuschen hinter dem Deich an. Freundin Eva, meine alte Banknachbarin aus der Schulzeit, hat Besuch. Ihr Bekannter führt Carla durch den Garten und sie verwickeln sich in ein langes Gespräch und schon weiß er alles über sie und sie vieles über ihn. Sein Metallfischlandwimpel nach Kurenart wird gedeutet und angepriesen.

Nach Brombeer- und Apfelkuchen geht es zurück in unser Domizil. Merkwürdig, vor vier Wochen war heißer Sommer, Evas Garten stand in Rosenpracht. Jetzt ist alles verblüht, Regen prasselt.

„Überall ist Herbst“, sagte Dietrich meine erste Liebe im Zelt in Graal-Müritz, als sich unsere Trennung anbahnte.

Carla spricht von herbstlich, Herbstsicht und Herbstlicht.

 

03.09.

Der Wind hat sich gelegt. Am Morgen fällt nur leiser Regen. Ich höre die Dünung.

Gestern. Wir fahren am Rostocker Hafen Richtung Warnemünde. Am gegenüber liegenden Warnowufer liegt das alte Marinehaus der GST. Als 17–jährige Schüler haben wir eine seemännische Kurzausbildung erfahren: Flaggensignale, Seezeichen, Knoten, Spleißen, in großer Mannschaft pullen (das ist rudern). Ich als Schlagmann am vordersten Ruder gab die Kommandos: Hol durch, hol durch!

Was mir nicht gefallen hat war das abendliche Singen von Shantys.

Am alten Strom angekommen, steigen wir in eine kleine blaue Ausflugsbahn und tuckern durch das alte Warnemünde. Nach kurzer Zeit verdrehe ich die Augen „Das musste ja kommen!“, Carla lacht schallend, denn der Lokführer lässt einen Shanty ertönen.

An der Kurve zur Strandpromenade reißt der Sturm einem kahlköpfigen Finnen die Mütze vom Kopf. Notklingel! Halt! - Ein bärtiger alter Schiffer eilt, die Mütze schwenkend, heran.

„Ein Glück“, sagt Carla, „das wäre ein bisschen kalt am Kopf.“

Spaziergang am Strom und auf der Mole. Ich zeige Carla die Nixe im flachen Granit der Molenbefestigung und schicke ein Foto an den Sohn Peter, der sie aus ersten Kindertagen kennt, wie ich vom Vater und der vom Großvater. Auch mein Mann kannte sie. Jetzt umspielt er sie in Spuren des Meereswassers, ist anwesend. Carla hat seinen letzten Weg schon erfragt im Rostocker Hafen und vielleicht kann sie dabei sein, wenn ich die gleiche Reise antrete, und sie wird die Musik ausgesucht haben. Ich wünsche es mir. Sie ist meine beste Freundin, ein bewegender Mensch. Sie beschützt mich in diesem Urlaub, wie sie es immer getan hat.

Mir werden die Beine lahm. Auf die nasse Bank mag ich mich nicht hocken. Da schleppt sie mich in einen Schuhladen. „Ich probiere Schuhe, sehe mir alles an und du setzt dich solange auf einen Stuhl.“ Es klappt, sie sucht und sucht, probiert an, ich glaube immer noch an Tarnung, dann aber kauft sie sich weiche Winterstiefel. Und verrückt, im Hinausgehen entdecke ich die hohen schwarzen Winterstiefel mit schwingender Sohle, die ich seit Jahren vergeblich suchte und kaufe auch.

Gedränge an der Kasse. Der Schuhverkäufer verabschiedet sich entschuldigend: „Es sind zwei große Passagierschiffe am Liegeplatz. An anderen Tagen ist es hier ruhiger“. Ich sage: „Wir haben sie gesehen. Sie verschandeln die Skyline von Warnemünde!“ Und das tun auch die neuen Riesenklopper neben dem Hotel Neptun, das alleinstehend gerade noch zu verkraften war. Neue Zeiten!

Nachmittags geht’s zum Bruder. Carla muss sich am Wiener Platz in Reutershagen alle Stätten meiner Kindheit ansehen, den Schreibladen von Frau Wildau, der ich beim Naseplattdrücken mit meinem Roller die Schaufensterscheibe eindrückte, den Fend`schen Tabakwarenladen, aus dem wir für 10 Pfennige den Prim, Kautabak für den Großvater holen mussten.

Beim Bruder wird Carla sogleich als Landei begrüßt, das sich eine schöne neue Frisur zugelegt hat und Erika verwöhnt uns mit Kuchen und Schlagsahne.

Dann geht es in den „Heumond“ am Rosengarten, da wo uns vor mehr als 30 Jahren der kleine Sohn in Angst und Schrecken versetzt hat, als er sich in den Wallanlagen selbstständig gemacht hatte. Ähnlich war es schon viele Jahre zuvor, wir waren zur Ferienlageruntersuchung in Steintornähe. Weil es ihm zu lange dauerte mit der Untersuchung der Mädchen, war der gerade 6–jährige Bruder allein losgegangen und hatte sich auf den kilometerlangen Weg nach Hause gemacht.

Gemütlich und schön ist es im „Heumond“, alles ganz naturnah. Ich lerne Carlas Freunde kennen, genieße das Essen und nehme den würzigen Duft mit auf den Rückweg ins Quartier.

 

04.09.

In den achtziger Jahren gab es einige Male eine Fruchtfliegenplage. Es hieß, die rühren her vom Chicoréeanbau der LPG „Edwin Hoernle“. Die betrieb hochwissenschaftlichen Landwirtschaftsanbau mit Gewächshäusern, computergesteuerter Beregnung, Düngemittelgaben, Licht- und Schattensteuerung.

Chicorée – ein helles schmackhaftes Gemüse – der Kern musste entfernt werden. Hinterm Deich leuchtet das Blau der Wegwarte. „Chicorée“, sagt Carla. „Ne, Zichorie“, hat mein Großvater gesagt, Zichorie für Kaffee der armen Leute. Erst mit dem Apple-Alleskönner bin ich belehrt (na so was, mit 73 lernt man noch). Chicorée ist gezüchtete im Jugendstadium gehaltene, chlorophyllunterdrückte Pflanze. Der bittere Kern ist eine Ahnung von Zichorie.

Auf den Apple muss ich leider verzichten. Meine Finger sind zu dick und ich war noch nie die Geduldigste. „Wuschig“, sagt Carla

Gestern waren wir auf dem alten Grenzweg. Ein Musterpfahl steht noch zwischen Mecklenburg und Vorpommern – siehste, Dierhagen ist Mecklenburg und nicht Vorpommern wie blöde Verwaltungsheinis es neuerdings festgelegt haben.

Im Gegensatz zum überlaufenen Warnemünde geht es auf dem Fischland ruhiger zu. Viele Leute sind in Ahrenshoop unterwegs, verstopfen die „Bunte Stube“, aber sie sind ruhiger, den bedächtigen Mecklenburgern besser angepasste Leute.

An kurzer roter Leine liegt der Hovawart. Mit gelangweilter Miene, geduldig, sein Mensch kramt in den Büchern der „Bunten Stube“, schaut er, wartend überlegen: „Für euch Wuselige lohnt sich nicht mal ein Wuff“. Auch die schwarze Katze, die in den Laden huscht, kann ihm keine Regung entlocken.

In den alten Boddenhäusern haben sich viele Künstler einquartiert, Garten, Tenne, Haus mit ihren Werken bestückt als wären die schon immer da gewesen. Ausstellung und Privaträume gehen nahtlos ineinander über, neue Keramik wird von altem Tongeschirr abgelöst, Bilder spiegeln Bodden und Meer, modernes Metall wiegt sich unter uralten Bäumen.

Im Garten am Restaurant auf dem Cliff hat ein Rostocker Bildhauer das Geheimnis großer Steine gelüftet. Gleich aufgeplatzten Kastanien, aus deren stachligen grünen Schalen die blanke Frucht leuchtet, hat er das Innere frei gelegt, bearbeitet und poliert, Kugeln, Schmetterlinge, Lippen, der Fuß einer Muschel schauen heraus – die Steine leben.

Am Nachmittag gehen wir in für mich weitem Bogen am Spülsaum des Meeres. Der Himmel öffnet sich langsam, sparsam. Von dunkelgrau, immer heller bis blau, ein wachsendes Loch. Zurück geht es im Dünenwald, Kiefern, Trockenrasen und Heidekraut wechseln sich ab. Am Ende unserer Straße, hier waren wir noch nicht, steht Odin mit seinen Raben Ruhin und Muhin und den Wölfen Geri und Freki in stattlicher Größe.

Gestern las Carla aus der E-Mail an ihren Freund vor: … und aus der Stille braust das Meer.

„Storm“, sage ich und zitiere. Am Abend lesen wir im Reclambändchen aus der „Bunten Stube“ nach. Und da stimmt in der 2. Strophe der Rhythmus nicht. Ich bin aufgestört, so was, doch nicht bei Storm! Zu viel oder zu wenig? Im Thorbecken-Band lesen wir nach und finden ein weggelassenes „e“, das das Versmaß störte.

Es rauscht kein Wald, es schlägt im MaiKein Vogel ohne Unterlass.

Die Wandergans mit hartem Schrei

Nur fliegt in Herbstesnacht vorbei

Am Strande weht das Gras.

Reicht es nicht, dass in Zeitungen Wortsinn wegen des Umbruchs zerstört wird? Nenne es pingelig. Mir verursacht ein solcher Lektorenfehler im Stormgedicht körperliche Pein, wie ich auch nicht aushalten kann, wenn einer Goethes „Prometheus“ zitiert und „… wider der Titanenübermut …“ durch „Tyrannenübermut“ ersetzt.

 

05.09.

„Warum nennst du alle Möwen Emma?“, möchte Carlchen wissen. „Peter sagte es so, abgelauscht bei einem Dichter, unsere Antje hat er so genannt“. „Strittmatter?“, fragt sie. „Nein, der war es nicht, der war Binnenländer.“ Abends freut sie sich, findet es  im Thorbecken und liest das Möwenlied von Christian Morgenstern vor.

Die Möwen sehen alle aus,      

als ob sie Emma hießen.

Sie tragen einen weißen Flaus

und sind mit Schrot zu schießen.

Ich schieße keine Möwe tot,

ich lass sie lieber leben –

und füttre sie mit Roggenbrot

und rötlichen Zibeben.

Oh, Mensch, du wirst nie nebenbei

der Möwe Flug erreichen.

Wofern du Emma heißest,

sei zufrieden, ihr zu gleichen.   

Den halben Tag verbrachten wir gestern in Paradiesgarten und Naturkundehaus im Ribnitzer Moor. Pilze interessieren Carla, mich vor allem die Reste der Meeresbewohner, ich bin ein bisschen an den Riffs im Roten Meer.

In der „Schatztruhe“ findet Carla einen wunderschönen Nathanring, einen Opal. Vor längerer Zeit hörten wir im Deutschen Theater gemeinsam die Ringparabel. Otto Mellis gab als Nathan der Weise seine letzte Vorstellung.

Es fällt mir in diesen Tagen immer wieder auf, wie Lebenskreise drehen, sich schließen, ineinander verweben, gleich sich verflechtenden Zauberringen. Es reicht eine unendliche Kette vom Anbeginn der Zeit bis in unsere Tage. Sie wird noch wachsen, wenn wir längst vergessen und eben doch nicht vergessen sind.

Carla hat einen Hühnergott gefunden und ich erzähle ihr, wie ich Peter Jewtuschenko vorlas:

…Du hast gesagt, ein Hühnergott bringt nur dem Glück, der ihn selber findet. Aber ich liebe dich und das bedeutet, ich und du sind eins. Wenn ich ihn gefunden habe, ist es genauso, als ob du ihn gefunden hättest, und er wird dir Glück bringen…  Er hat später daneben geschrieben,  und darüber bin ich heute froh, damals war ich eher ärgerlich über Tintenschrift in meinem Buch: Ich muss sagen, ich bin sprachlos über diese Worte. Warum ist man so dumm, das nicht selbst ausdrücken zu können.

Antje und Anke sind an der See angekommen, schicken ein tiefblaues Bild: Unsere Ostsee.

Heute hat Antje Geburtstag. Ich rufe sie an und lese ihr von der Möwe vor.

 

06.09.

Gestern, nach einem Tag am Strand, sagt Carla: „Ich bin ja gespannt, was du morgen schreiben wirst.“ „Ich auch!“

Ich habe bereits darüber nachgedacht. Es ist scheinbar wenig passiert und schreiben, ohne etwas ausdrücken zu können ist noch schlimmer als reden ohne was zu sagen. Dabei sind Dummschwätzer nicht selten; wir pflegen das nicht. Mit Carla spricht es sich tiefsinnig, lässt sich gut schweigen. Und bei Anlass können wir herumalbern, dass ich mein Alter vergesse.

Der Tag begann heiter, mit wenig weißen Wolken. Schwalben jagten hoch in der Luft. Um diese Zeit sind Junge dabei, tummeln sich, üben den Abflug. Erstmals haben welche bei mir zu Hause gebaut, nicht einmal der große Kran am Neubau, vor dem sich meine Katzen fürchten, konnte sie schrecken. Wahrscheinlich sind die Schwalben fort, wenn ich zurück komme.

Am Strand stolzieren junge Mantelmöwen. Eine beäugt mich mit geneigtem Kopf. „Gibst du mir was?“ Ich antworte: „Warte ab, noch ist es nicht Winter.“ In der Luft scheint eine andere unzufrieden über diese Entscheidung zu sein und beschwert sich laut.

Wir haben einen Strandkorb gemietet.

In der Nähe lagert eine Truppe aus dem Gruselkabinett. Über und über tätowiert, Arme, Hals, Brust, Bauch, Beine sind mit willkürlich aneinandergereihten Motiven entstellt, unruhiges Chaos. Kleinkinder sind dabei – sie tun mir leid, sie werden Opfer. Auch die etwas fette Mutter ist entstellt und schockiert zusätzlich mit glitzerndem Totenkopf auf dem Shirt über Schwimmringetagen – was für eine schreckliche Unsitte. Mag jedes Tatoo auch noch so „kunstvoll“ sein, das Sammelsurium ist eine Katastrophe. Selbst die herausfordernde Einzelranke am Busen einer anderen jungen Frau empfinde ich als aufdringliche Beleidigung menschlicher Schönheit. Tätowierungen akzeptiere ich als Stammeszeichen bei alten Völkern, bei Seeleuten in Maßen und als Ausdruck der Langeweile bei Knastbrüdern.

Verpönt waren sie schon im vorigen Jahrhundert, wie du bei Ehm Welk an Pastor Breithaupts Ulrike sehen kannst, die ihrem Vater vorlog, Chrischan Klammbütel habe ein Engelchen auf der Brust.

 Aber heute ist alles anders – und so etwas wollte ich nie sagen- aber wie du sogar am

„Ehm-Welk-Haus“ sehen kannst, die Doberaner können es nicht als Museum erhalten und werden es verkaufen müssen.

Am Abend bewundern wir den Tanz zahlreicher Libellen, die vom Bodden herüber geflogen sind.

Und dann ist ein besonderer Ton in der Luft, rasch fliegende Schwäne kommen von See, sind über uns, vergolden sich im letzten Abendlicht. Bauch und Beine leuchten, schön, ein Märchen, ein verwunschenes Königspaar – schon vorbei.

 

07.09.

Strahlender Tag, wolkenlos, die Schwalben waren steigende und fallende Punkte hoch im Himmel.

Carla buddelte Steine aus dem Sand. „Hier kann man Schätze finden!“ „Ach, suche sie lieber vor Königsberg, da liegen viele Dinge, so wie die versunkene „Georg Büchner“. Meine Geschichte dazu bringt der „Rotfuchs“ erst demnächst, gar nicht mehr aktuell.“

„Doch“, sagt Carla, das Ereignis  ist doch typisch. Das spiegelt die gesellschaftlichen Verhältnisse wieder.“

Verblüfft sage ich: „Oh, Carla, du kannst schlaue Sachen sagen.“ Schon steigt das erste große Gelächter des Tages.

Wir beobachteten die Leute.

Umständlich hat eine Familie den neumodischen Windschutz aufgebaut. Als sie nach einer Stunde schon wieder gehen, meint Carla, dass sich das gar nicht gelohnt habe und wieder lacht sie los, weil ich sage: „Das ist wie bei mir zu Hause. Ich stehe in der Küche und denke, das lohnt sich nicht, gehe wieder hinaus und koche nicht.“ Dann aber vergeht uns das Lachen. Feuerquallen haben uns erwischt, „vergiftet“, sagt Carla. Alle vier Beine sind benesselt. Scharfe Stiche lassen uns in der Nacht nicht schlafen.

Lange saßen wir ziemlich vorn auf der Seebrücke in Wustrow. Vor einer Woche noch hätte ich mich schon auf die erste Bank am Brückenanfang gesetzt. Ich höre nun von Carla, der ich voraus geeilt war: „Du haust ab, wie eine Kanone ohne Schirm.“

Auf dem Parkplatz vor EDEKA verging mir das Lachen, es musste noch eingekauft werden.

 Sie stellt das Auto im Schatten ab. Ich soll sitzen bleiben. Kapp, klapp macht es – sie ist weg und ich bin eingeschlossen, probiere alle Hebel, Griffe, Knöpfe, nichts hilft – ich bin hier eingesperrt. Soll ich auf Klaustrophobie getestet werden? Womit könnte ich eine Scheibe einschlagen? Werden mich Passanten entdecken und befreien? Endlich kommt sie, schließt seelenruhig die Tür auf und hat meine Zwangslage nicht einmal bemerkt. Na, da habe ich etwas, womit ich sie immer wieder anpieken kann.

Dann, es ist nicht zu fassen, kaufte sie sich Seifenblasen, die nicht gleich zerplatzen, ließ sie vor der untergehenden Sonne steigen. Die Leute im Nachbarkorb freuten sich mit uns, bedankten sich für die „Unterhaltung“.

 

08.09

War das eine Woche! Alles da: Sturm, Regen, Sonnenschein, glückliche aber auch unzufriedene Menschen.

Gestern hoch über der See auf dem Deich werde ich Zeuge bei Letzteren. Eine Fremde offensichtlich eine Tochter, die ihrem Vater sagt: „Ich fliege nach Valencia, das liegt in Spanien, falls dich das interessiert.“ Ich erstarre innerlich. Er reagiert nicht, fragt sie dann, wie sie zum Flughafen kommt und möchte offensichtlich gebeten werden. Sie antwortet: „Irgendwie!“ Dann geht sie mit der Mutter und ihrem Hund los, der Vater trottet wie nicht dazu gehörend hinterher.

Manchmal sehen wir Paare stumm am Tisch, dann eine junge Frau mit versteinertem Gesicht, die keinen Anteil nimmt am Spiel des Vaters mit dem kleinen Kind.

 Menschen, redet doch miteinander, redet!

Es begegnet uns auch der alltägliche Rassismus. Beim Türken an der Imbissbude arbeiten junge Deutsche, wahrscheinlich Studenten. Der dicke Mann am Nachbartisch sagt laut und  überzeugt zu seiner Frau: „Bei so einem würde ich niemals arbeiten,“ und verdrückt seinen Döner.

Ich habe Zeit, nachzudenken.

Carla hatte Geburtstag, ist nach der morgendlichen Zeremonie, Glückwünsche, Geschenke, Kerzen, Musik mit ihrem Freund verabredet. Sie ist zufrieden, im Gleichklang, lacht über meinen energetischen Klopfvorschlag: Ich bin Carla, wer ist mehr!?

Auch meine Kinder sind glücklich. Antje hat vor Freude geweint, als ich ihr zwei Tage zuvor wünschte: „Du sollst immer so glücklich bleiben, wie du jetzt bist.“ Sie hat von mir wohl noch nie ein so deutliches Wort über ihre lesbische Beziehung gehört.

Mein Sohn hat seinen Grundsatz: Drum prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich nicht noch was Bessres findet, aufgegeben und seine Freundin mit samt ihren Möbeln zu sich ins Haus geholt.

Und was nehme ich aus dieser Landeierwoche mit?

Carla ist meine Freundin. Wir hören uns zu, hören uns mit dem Herzen zu. Das wirkt weiter, auch in der Ferne.

Sie hat mich mit ihrer Energie rücksichtsvoll, aber ständig angetrieben und ich habe gelernt, wenn ich mich regelmäßig bewege, verschwinden die Beschwerden, ich kann laufen.

Bei Donna Leon sagt Kommissar Brunetti über eine Frau:… sie war gesund, bis auf die Knie …, ein bösartiges altes Weib, das sich nicht mehr bewegt hat …

Carla schüttelt den Kopf, als ich ihr das vorlese und sagt: Hör dir lieber das mal an und zitiert aus Anam Cara, Keltische Weisheit: Häufig haben alte Leute eine rührende Frische an sich … Ich kenne ein paar wirklich alte Menschen, deren Herz voller Spitzbüberei, Unfug und Lebenslust steckt … Wenn man ihnen begegnet, hat man eine Empfindung von Helligkeit, Leichtigkeit und Heiterkeit.

„Danke, Carla!“

Darauf sagt sie: „Gleichfalls, Edda, war ne echt schöne Woche mit dir, wo wir doch so alt auseinander sind!“



 

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