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Gelebtes

Foto Martina Heinze

Jedes Jahr zu Pfingsten

Das sind so Sachen mit den Sachen

 

Früher gab es Ausschneidebögen mit Puppen in Unterwäsche und dazu allerlei Kleider, Mäntel, Mützen, Handtaschen und Schuhe. Beim Ausschneiden musste man sorgfältig die überstehenden Aufhänger beachten. Sie wurden umgeknickt und schon konntest du die Puppe immer wieder anderweitig bekleiden. Ich kombinierte wild drauflos,  - Pelzmütze mit Sommerkleid -,  Winterjacke zu kurzen Hosen -. 

Für meine Mutter übernahmen  wir Kinder die Rolle der Anziehpuppen. Nach dem Krieg verwendete sie jedes ausrangierte Kleidungsstück, trennte auf, wendete und nähte auf der alten schnurrenden Singer Nähmaschine für uns Hosen, Mäntel, Kleider, Blusen und Hemden. Der Bruder setzte sich auf das Tretbrett und ließ sich auf und ab tragen, ich führte Gespräche mit den Anziehpuppen: „Dreh Dich um, stell, Dich nicht so steif hin, zieh das Grüne an“.

 Von Zeit zu Zeit verstummte das Gesurr und wir mussten uns auf den Tisch stellen. Wie auf einer Schneiderpuppe wurden auf unserem Körper die Sachen mit Stecknadeln in Form gebracht und mit einer großen Schere beängstigend beschnippelt. Ich spüre noch die kalte Schere am Hals und die Nadelstiche, wenn das Kleidungsstück wieder über den Kopf gezurrt wurde. Die Prozedur wiederholte sich,  - gesteckt, -  geheftet,  - genäht, -  Endkontrolle.

Jedes Jahr zu Pfingsten wurden wir neu eingekleidet. Aus einem fliederfarbenen Taftkleid der Mutter entstand für den fünfjährigen Bruder ein Blüschen mit Rüschenkragen, an dem sein blaues Höschen mit vier großen weißen Knöpfen befestigt wurde. Auch ich hatte so eine Kräuselei  am Kragen und dazu kleine blaue Schleifchen am Kleidersaum. Auf dem Kopf wippte eine riesige lila Propellerschleife. Unsere gestrickten, mit Lochmuster verzierten Kniestrümpfe steckten in neuen Halbschuhen – aus Igelit. Die Waden waren gut belüftet, die Füße schwitzten.

So hergerichtet stellten wir uns dem Großvater vor und wünschten ihm ein frohes Fest. Er legte sich einen weißen Pappkragen um, zog seinen alten Hochzeitsanzug an und stieg mit uns langsam die Treppe hinab. Elegant schwang der Großvater seinen Stock.  Wir versuchten auf der Straße Schritt zu halten und kleckerten  ihm trippelnd nach. Schön war es, wenn ich seinen Handstock benutzen durfte. Es fiel mir schwer, bei jedem Schritt Großvaters eleganten Zwischenschwung nachzuahmen. War der kleine Bruder an der Reihe, wichen die anderen Spaziergänger ihm und seinem herumfuhrwerkenden Stock   in weitem Bogen aus. 

Wieder zu Hause, wurden wir als erstes wieder umgetopft. Es war uns recht, brauchten wir doch nicht länger steif und vorsichtig die neuen Sachen vor Schaden behüten.

Im Winter trugen wir über den Kniestrümpfen weiße, kratzige Schafwollgamaschenhosen. Die untere Lasche wurde mit einem Gummi unter der Schuhsohle festgehalten. Wie habe ich die Kinder beneidet, die ein Leibchen mit Strumpfbändern trugen und daran lange weiche braune Strümpfe knöpften. Die Mutter sagte nur, „die frieren alle oben an den Beinen, da guckt das nackte Fleisch raus und außerdem, weiß ist schöner als das langweilige Strumpfhosenbraun.“

 



 Jugendherberge Kagel /Nichts bleibt wie es ist

 

Es scheint nicht möglich zu sein, nahtlos an vergangene Zeiten anzuknüpfen. Viele Male war der Chor hier zu Probenwochenenden. Peter war fast immer dabei. Er schlief, wie probten, abends feierten wir. In den Pausen liefen wir durch die Wiesen und hörten den Lerchen zu.

 Beim vorletzten Mal musste ich die Probe verlassen. Brahms „ All meine Herzgedanken“ berührten meine kummervolle Seele, ich musste weinen und weinen und hatte doch noch Hoffnung.

Auch äußerlich hat der Ort sich verändert. Alle größeren Flächen sind gezielt mit Graffiti gestaltet. Sicher soll Schmiererei verhindert werden, aber mir gefällt die bunte Unruhe nicht, das ist nicht mehr die alte Jugendherberge. Es sind nun neue Betten da und Stühle, aber immer noch wandern die Weiblein von der unteren Etage zum Duschen in die obere und die Männer steigen von der oberen zum gleichen Zeck herab, wieder wird nach jeder Mahlzeit der Saal zur Probe umgeräumt und nach dem Essen wieder zurück. Wir aber sind älter geworden, scheuen die Unbequemlichkeit und etliche reisen nur bruchstückweise an.

Die Proben sind anstrengend und schön, Thomas spielt intensiv sein schwieriges Instrument, den Chor. Wir folgen seinen Sprüchen:   „Singt das Lied nicht wie Weltuntergang sondern als dunkle Wolke, die Regen bringt." „ Macht den Gesang mit eurer innerlichen Einstellung schön!" 

 Und es wird auch, am letzten Tag ist es Musik,fängt an zu klingen, jubeln, nimmt Farbe und Gestalt an. Es fällt mir schwer, nicht nur den Solisten zu lauschen und dadurch  meine Gesangseinordnung zu versemmeln.

Am Abend gehen Gespräche von Doppelstockbett zu Doppelstockbett hin und her, von oben nach unten, mal gerade mal schräg je nach Lage, mal ernst mal heiter, irgendwann schlafen alle, nur ich nicht, ich habe gierig alle Kaffeepralinen von Poldy auf einmal verdrückt. 

Sprüche am Rande erfrischen am Morgen den Kopp:                                                                                                                       Ich geh duschen,  na wenn´s hilft !                                                                                                                                                 Meine Großmutter  hatte ihr Ganztagsgebiß in der Schürzentasche !                                                                                                Was hast du denn für eine Kirchenausbildung ?

Kerstin beklebt uns mit blauen Bildchen.
Peinlich wird es am Montag, als ich bei einer Untersuchung den erstaunten Blick des Arztes auf mein mit  Abziehbild beschmücktes Bein bemerke.


Kreise


Carla ist seit vielen Jahren meine Freundin. Angefangen hat alles bei der gemeinsamen Arbeit an Schulen in Berlin. Danach haben wir uns nie aus den Augen verloren, besuchten uns gegenseitig, wußten immer über unsere Lebensumstände, Kinder und Familie auch mal Liebeskummer bescheid und verstanden uns bei jeder Begegnung, als wären wir gestern noch zusammen gewesen. Seit es uns Whats App so leicht macht, ständig und schnell Kontakt aufzunehmen, ist der gegenseitige Austausch zum leicht erfüllbaren Bedürfnis geworden , dem wir stetig nachkommen. Tochter Antje war zunächst immer ein bißchen eifersüchtig auf diese Freundschaft mit Carla. Als sich beide näher kennen lernen ist das vergessen.


Carla bekommt von mir Fotos von den neuen Graumelierten meiner Kinder, Katzen, die aberteuerlich durch die Regale turnen.           

Die brauchen keinen Fernseher in Potsdam,  kommt es per Whats App von Carla.                                                                      Stimmt, aber die verpassen Soko Wismar.                                                                                                                                      Ich auch, teilt Carla mit, fahre jetzt nach Kavelstorf gießen bei Freunden.Die sind auf Gomera.                                                          Bis Kavelstorf? frage ich. Das könnte doch Isa machen meine Studienkollegin, sie wohnt dort. Wir haben während des Studiums in einem Zimmer gewohnt, uns später gegenseitig zu Hause besucht . Ich kenne ihren Mann und die Kinder, eine nette, harmonische Familie.                                                                                                                                                                                        In welcher Straße wohnt sie denn?   Wenig später habe ich ein Bild auf dem Smartphon , Isa frisch wie gewohnt mit Hacke und Eimer, ganz die Alte: Hallo Atze, viele Grüße!                                                                                                                                           Hurra liebe Isa , Carla ist meine Lieblingsperson!                                                                                                                          Wie schön, so richtig um die Ecke wie Hohen Sprenz, Wismar ,Rostock, kommt mein Kommentar aus Berlin                                   Hohen Sprenz? , wundert sich Carla.                                                                                                                                             Du erinnerst Dich an Renate Bartsch, die mit Dir im Wismeraner Musikensemble war, dort Solo gesungen hat?                                   Mir fällt ein, daß ich zuerst dachte, ich hätte Renate in Berlin im Lehrerchor kennengelernt. Dann entdeckten wir verwundert , daß wir schon vor 40 Jahren gemeinsam in Hohen Sprenz , einem kleinen Dorf bei Schwaan, wohin meine Mutter mit mir während des Krieges evakuiert worden war , gespielt haben. Die Fischerkinder waren auch dabei. Nur einmal gab es Ärger, weil wir uns nach dem Spiel so lange hin und her nach Hause begleitet hatten, bis es dunkel geworden war . Mein Bruder wurde dort geboren. Früher hat er sich darüber geärgert, weil nicht wie bei mir Rostock sondern Hohen Sprenz als Geburtsort in seinem Personalausweis stand. Ich dagegen habe mich gleich dort über die Bauerstochter Grete H. geärgert , sie wollte, ich solle den Storch rufen : Klapperstorch du bester, bring mir noch eine Schwester, was ich ablehnte:                                                                                                                                 Denkst Du, meine Mutti soll wieder babykrank werden?


Wismar war für mich immer nur Zwischenstation, um beispielsweise unsere Tochter in den Ferien bei Schigu, auch eine Studentenfreundin aus Güstrow,die heute in Klütz lebt, für die Ferienzeit abzugeben.Die rufe ich nach der Begegnung von Isa und Carla an. Sie freut sich und erinnert mich, wie sie einmal, um pünktlich zur Übergabe in Wismar zu sein, einen Leichenwagen angehalten hatte. Oder wie wir Frau Müller, die Wirtin aus der Studentenkneipe schockiert hatten , als wir uns bei ihr aus Ärger über, ich weiß nicht mehr was, einen doppelten Wodka bestellten. Ich höre wieder deren Entrüstung: So was ist mir in meiner ganzen pädagogischen Praxis noch nicht passiert . Schigu hat nicht nur Frau Müller brüskiert, u.a. rauchte sie Pfeife. Und ich fand sie in ihrer ungezwungenen Art so erfrischend und anziehend, daß ich mich bemühte, ihr nachzueifern und natürlich auch Pfeife zu rauchen.


Ich erzähle Renate Bartsch vom neu aufgenommenen Faden durch Carla und Isa in Kavelstorf. Sie freut sich mit mir, weil nach Jahren solche Begegnungen stattfinden können, die Zeit scheinbar still gestanden hat , der Kreis der Freunde größer geworden ist , in dem wir eingebettet sind und uns wieder jung fühlen.  

Das muß ich gleich meiner Schwester in Hohen Sprenz erzählen!, sagt Renate.





Glauben ist nicht Wissen 

Am Morgen fragt mich der achtzehnjährige Sohn: „Was ist der Unterschied von Glauben und Wissen?“ „Das ist gar nicht so einfach Peter.  Es sind zwei verschiedene Dinge.    

 Wenn ich etwas weiß, lässt sich beweisen, dass es richtig ist - wenn ich etwas glaube, muss es nicht stimmen, die Meinungen dazu können unterschiedlich sein. Das schadet auch nicht. Falsch ist es aber, zu behaupten, nur die eigene Ansicht sei richtig.            

 Wer dann auch noch stur darauf  beharrt, nicht bereit ist, seinen Standpunkt zu überprüfen, setzt sich ins Unrecht. Von sich selbst überzeugt und unduldsam gegen andere, kann so ein Mensch gefährlich werden. Wenn er seine Ideen dann auch noch rücksichtslos durchzusetzen versucht, wird er zum Fanatiker.“                                                                                                        

„Was ist ein Fanatiker?“, will Peter wissen.                                                                                                                                     „Ein von einer Idee, Vorstellung oder Überzeugung Besessener“. Das kommt in vielen Lebensbereichen vor, es reicht von der Frage ob Kinder geimpft werden sollen, über vegetarische Ernährungsformen,  militante Formen von Tierschutz bis zur Ungewissheit wer an den richtigen Gott glaubt. Welche Auswüchse das nehmen kann, haben schon die christlichen Kreuzzüge, die Hexenverbrennungen im Mittelalter, die grausame  Verfolgung der Juden und die Selbstmordattentate der Gegenwart gezeigt. Im Namen einer Religion wurden ganze Völker aufeinander gehetzt. Bis heute haben die Menschen aus der Geschichte wenig gelernt.“                                               Peter schweigt nachdenklich, dann fragt er: „Woran glaubst du?“ 

„Da muss ich ein bisschen ausholen“, antworte ich, nehme ein altes Fotoalbum aus dem Schrank und zeige ein vergilbtes Bild von mir mit langen Zöpfen, dunklem Kleid, Kreuzchen am Hals und Gesangbuch in der Hand. „Das ist von meiner Konfirmation. Ich war  vierzehn Jahre alt. Vor der feierlichen Aufnahme der Jugendlichen in die evangelische Kirche wurden wir dazu unterrichtet.“ „ In der Schule?“, staunt Paul. „Nicht in der Schule, in der Kirche während der Christenlehre und im Konfirmationsunterricht. Da hörten wir: Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Nach einer Woche hatte er alles fertig Erde, Wasser, Tiere und Pflanzen, zuletzt der erste Mensch Adam und seine Frau Eva. Das fand ich unwahrscheinlich und in einer Woche nicht zu schaffen.                                      

In der Schule lernten wir es anders, wissenschaftlicher:                                                                                                                 Das Leben auf der Erde hat sich vor Millionen von Jahren ganz allmählich im Wasser entwickelt. Winzige Lebewesen breiteten sich aus, veränderten sich, Algen, Quallen, Würmer, Schnecken entstanden, später Fische. Frösche, dann Echsen, die krochen auf das Land, Vögel eroberten die Luft. Zuletzt sind die Säugetiere entstanden. Die Vorfahren der Affen kamen von den Bäumen herab, lernten aufrecht zu gehen und die Hände zu benutzen. Mit der Zeit haben sich aus ihnen die Menschen entwickelt. Die lernten bei der Arbeit. Jetzt können sie denken, jedenfalls die meisten.“                                                                                     

Peter staunt und sagt, „ Dann können Schimpansen heute auch noch Menschen werden?“ „Nein, die Bedingungen sind jetzt ganz anders auf der Erde und wir haben diese schon als unseren Lebensraum besetzt. Außerdem erleben wir ja, wie sehr sich manche Personen gegen Fremde wehren, die würden das nicht zulassen.

Während meiner Schulzeit war ich zu schüchtern, meine Biologielehrerin zu fragen, wie das nun tatsächlich war mit der Erschaffung der Welt. Da sie  sonntags zur Kirche ging, war ich misstrauisch geworden. Ich konnte auch nicht glauben, dass wir eines Tages in den Himmel kämen.Meine Besuche in der Kirche beschränkten sich bald nur noch auf Heiligabend, weil das so üblich und besonders feierlich war. Als ich in eine andere Stadt zum Studium kam und noch mehr von der Entwicklung der Erde und ihren Bewohnern  lernte, trat ich, ohne meine Eltern zu fragen, aus der Kirche aus.“ 

„Eins verstehe ich nicht“, sagt Peter:  „Du bist  auf der Oberschule gewesen und hast studiert? Es heißt doch jetzt, die Kinder, die in der DDR zur Kirche gingen, hatten Schwierigkeiten, wurden nicht beim Studium zugelassen.“        

„Das stimmt so nicht, ist übertrieben, wie du an unserer Bundeskanzlerin sehen kannst. Sie stammt aus einem Pastorenhaushalt in unserem Land, wurde konfirmiert und hat in Leipzig studiert.

In meiner Erinnerung war das damals eher so: Als der Staat Jugendweihe für die Vierzehnjährigen einführte, wollten zunächst viele Pastoren die Kinder, die zur Jugendweihe gingen, nicht konfirmieren. Erst später wurde es anders. Es ist nicht gut, immer sofort alles zu glauben, was so gesagt wird oder in der Zeitung geschrieben steht, besser lieber genau hinsehen und sich selbst überzeugen.“                                 

Peter überlegt, dann erklärt er: „Ja also, dann ist dein Bild mit dem Kreuz auch kein richtiger Beweis, vielleicht bist du gar nicht konfirmiert worden, so ein Foto kann man leicht anfertigen!“ Ich lobe ihn: „Richtig so, prüfe nach, dann kommt die Wahrheit heraus.“ „Ja aber wie, wo soll man nachfragen?“ „Vielleicht kann mein altes Gesangbuch helfen!“ Ich hole das Buch aus dem Regal und schlage es auf. Da steht in der Handschrift meines Vaters: Unserer lieben Edda zur Konfirmation, Palmsonntag 1954.                                                                                          

„Wann bist du geboren?“, fragt Peter. „1939!“ „Das kommt hin!“, sagt er. Als ich auch noch die Konfirmationsurkunde hervor krame, abgestempelt mit dem runden Siegel der Lutherkirche zu Rostock, strahlt er:

  „Das ist der Beweis, nun weiß ich es.“

 


Unter der Burka

Vielleicht ist die Frage, ob der Islam zu Deutschland gehört, gar nicht die entscheidende. Der Islam gehört zur Welt, und die Frage ist, ob Deutschland eine weltoffene Nation ist, las ich kürzlich in einem Artikel von Miriam Sachs       

 Ja wie ist es bestellt um die Weltoffenheit der Deutschen?                                                                                                     

Vor einigen Jahren beim Chorfest war ich erschrocken, als ich, bekleidet mit einer Burka,  Sybilles Beklemmung spürte, Manuela mich ablehnte und mir ein Sänger geheimdienstwürdige Überwachung ankündigte. 

Im Koran heißt es: Prophet! Sag deinen Gattinnen und Töchtern und den Frauen der Gläubigen, sie sollen (wenn sie hinaus treten) sich etwas von ihrem Gewand (über den Kopf) herunterziehen. So ist es am ehesten gewährleistet, dass sie (als ehrbare Frauen) erkannt und daraufhin nicht belästigt werden.“ 

Das ist es auch, was ich in der Lebensgeschichte einer Europäerin las, sie fühlte sich sicher und frei unter der Burka.

Ulrike hat sich für den Orientalischen Abend des Chores ein Gewand aus Dubai besorgt. Dann erfährt sie, dass sie sich auf eine wichtige Prüfung vorbereiten muss. Sie ist traurig, aber für mich wird die Sache zum Glücksfall, ich darf das für diesen Abend erworbene Gewand tragen, und hoffe, einen kleinen Eindruck vom Lebensgefühl unter der Verschleierung zu erspüren. 

Die Burka ist ein Ganzkörperschleier, eine besondere Form des Niqab ,der bedeckt nur das Gesicht und einen Teil des Oberkörpers. „Meiner“ hat einen langen Schlitz für beide Augen, die Stoffbahnen sind an einem Band befestigt, das an der Stirn angelegt und hinter dem Kopf verknotet wird. Dazu trage ich einen Hijab, einen speziellen Schal. Das traditionelle Kleid, die Abaya, ist aus edlem Stoff, reicht bis zum Boden und bedeckt die Arme vollständig.

Ulrike zeigt mir, wie Niqab und Hijab anzulegen sind, Amrei wird eingeweiht, sie hilft mir beim Schminken der Augenpartie, beim Lackieren der Nägel und ich schlüpfe in das schwarze Gewand, erkenne mich im Spiegel nicht mehr.

Im Saal sind bereits etliche „Araber“ mit dunklen Brillen, angemalten Bärten und stilechten Kopfbedeckungen. Langsam durchschreite ich den Saal, die lange Abaya leicht geschürzt, ich möchte sie Ulrike sauber zurückbringen. Das Gesichtsfeld ist so eingeengt, dass ich den ganzen Kopf drehen muss, wenn ich zur Seite sehen möchte, die Luft wird knapp unter dem dichten Niqab.

Neugierig sieht man mich an. Ich schaue intensiv zurück und antworte nichts. Peter prüft sogar zweimal: Tut mir leid, ich erkenne dich nicht.

 Sibylle fragt: Wer bist du? Schaut und schaut und ich sehe ihr die Beklemmung an. Ich schweige. Einer unserer Sänger droht: Lass dich nicht vom BND erwischen. 

Horst spricht mich mit Suleika an, versucht mich in ein Gespräch zu verwickeln und mir Wein anzubieten, ich lehne ab. 

Ingried reicht mir Wasser, das nehme ich, hebe ein wenig den Schleier und trinke. Das ist auch dringend nötig, mir fließt der Schweiß in Strömen. Meinen Plan, nur umherzuwandern, mich heimlich unter den Sopran zu mischen, gebe ich auf. Um die Freiheit unter der Verschleierung empfinden zu können, bin ich zu ungeübt, ist es zu stickig und zu heiß. 

Manuela sieht mir in die Augen und sagt: Das ist ja ekelig! 

Ich denke verstört: Wie meint sie das?

An meinem Tisch scheint man jetzt zu ahnen, wer ich bin, mein Gang hat mich verraten. 

Bei den lustigen Einlagen von Bass, Sopran und Tenor muss ich mich lautlos amüsieren, denn immer noch rätseln viele herum: Wer ist diese Person?

Der Alt hat den letzten Beitrag. Wir singen. Zu den Worten „mit klaren Augen und offenem Gesicht“, kann meine Verschleierung nicht länger aufrecht erhalten werden, ich streife den Niqab ab. Luft, Luft, Luft! 

Draußen werde ich von etlichen Altistinnen umarmt aber zwei  wenden sich ab.

Die wunderschöne Abaya würde ich sofort wieder anziehen, auf die Freiheit unter der Niqab eher verzichten, obwohl ich die Ahnung eines besonderen guten Gefühls erhascht habe. 

Es bewusst zu genießen, brauchte es Übung, so bleibt mir nur Akzeptanz und Freude am Fremden. 

                                                                                                             


Himmelfahrt 

 

Am 40. Tag nach Ostern ist  Christi Himmelfahrt. Im Evangelium des Lukas lesen wir: „ Und es geschah, da er sie segnete, schied er von ihnen und fuhr auf gen Himmel.“ An diesem kirchlichen Feiertag entwickelte sich der Brauch, Altäre mit Blumen und Kräutern zu schmücken. Bei Flurprozessionen  zum segnen der Saat wurden sie von jungen Männern gesammelt.

Im 19. Jahrhundert wurden daraus „Herrenpartien“, im  20. Jahrhundert wandelten sie sich zum „Vater- oder auch Herrentag“, -  so als Gegengewicht zum Muttertag.

Der ursprüngliche Sinn ging verloren. Nicht mehr Altäre, die Herren selber werden beschmückt. Mit merkwürdigen Hüten, Fahrradklingeln an Spazierstöcken, Luftballons und anderweitigen Lustigkeiten kommen sie daher, hochprozentig innerlich überstärkt, demonstrieren sie den starken Kerl, je weniger davon tatsächlich vorhanden, desto mehr.

 Besser du umrundest ihre Ansammlungen in weitem Bogen. 

Eine Himmelfahrtsgeschichte wurde in unserer Familie jedes Jahr erzählt und manchmal noch zu anderen Zeiten, immer dann wenn die Rede auf die Liebesgeschichte meiner Eltern kam. Im Hinrichshagener Krug in der Rostocker Heide war eine Wandergruppe junger Mädchen auf die Herrenpartie des Turnerbundes getroffen. Meine Mutter kam neben meinem Vater zu sitzen. Er fuchtelte, nicht mehr ganz nüchtern, mit seiner Zigarette herum und sie empörte sich, „Sie haben mich eben mit ihrer Zigarette verbrannt!“ Seine Entschuldigung weitete sich aus, Gespräch, Verabredung, na das kennt man ja.

 Wir, Peter und ich, haben den Tag immer als freien Tag für uns genutzt, mit unseren Kindern im Grünen, später allein. Einmal wunderte uns die Wirtin eines Lokals an, weil mein Mann gemeinsam mit mir zum Essen kam, ohne Anzeichen von Herrentagsbelustigungsbedürfnissen. Die Antwort hatte er schon vor Jahren gegeben, nachdem wir bei der Arbeitskollegin Susanne und ihrem etwas spinnerter Mann Walter, Typ verkannter Künstler, zu Besuch waren. Der hatte gesagt, er könne sich sehr gut vorstellen, mit meinem Peter  eine Himmelfahrtstour zu machen. Peter murmelte nur etwas vor sich hin, so wie: „ ehh, naja, hm, hm“ und äußerte dann auf dem Heimweg, „na so was, das war mir schon mit zwanzig zu albern.“ 

 Die Sache war aber die, Susanne und Walter waren immer in Sorge, gesellschaftlich etwas zu versäumen. „ Als Grafiker muss mein Mann etwas darstellen in seiner Firma, er trägt nur schwarz, das wirkt immer vornehm. - In dieser Krankenkasse können wir nicht bleiben, da wird man sofort als ärmlich eingestuft. - Einmal in der Woche gehe ich durch die Kaufhäuser, damit ich auf dem Laufenden bin.“ Dahinein passt Walters Vorstellung: „Wenn viele Männer Himmelfahrt auf Tour gehen, muss ich das auch, natürlich mit angemessenem Partner.“ 

Einmal aber schießen die beiden ein gewaltiges Eigentor. Bedacht auf gesunde Lebensweise, missionarisch ständig unausgegorene grüne Ideen verkündend, mieten sie einen Garten. Ich sage,

 „ wie schön, wo ist es?“ „ Auf dem Bahngelände zwischen Adlergestell, - du musst wissen das ist eine verkehrsreiche Ausfallstraße -,  und S-Bahn.“ Mir bleibt der Mund offen, ich lache und sage: „ Da ist euer Balkon im grünen Hellersdorf gesünder, keine giftigen Abgase, kein kadmium- und bleivergiftetes Gemüse.“  Bleibt zu erwähnen, ein Jahr später wird der Garten wieder aufgegeben.

 

Am 40. Tag nach Ostern ist Christi Himmelfahrt. Ich will das schöne Wetter zu einem Spaziergang im Hoppegartener Wald nutzen, zumal sich der Sommer in diesem Jahr früher als gewohnt zeigt. Der Löwenzahn ist weiß, trägt seine Fallschirmkinder, lila Storchschnabel reckt sich, der Ginster prangt gelb. 

Am Bahndamm gibt es für die Zoche einen Durchstich, einen Tunnel, durch den ich dem Bach in den Wald folge. Doch schon an der Haustür höre ich heute das Gegröle der Angetrunkenen, mache einen Riesenumweg und denke. „ Die Glocken von der Dorfkirche  haben am Morgen den Tag feierlich eingeläutet. Davon scheinen die Krachmacher nichts zu wissen, auch nicht von dem alten Christenbrauch, an diesem Tag den Sommer zu empfangen. Aber sie glauben auch etwas: 

Einmal im Jahr müssen sie sich gegen die Emanzipation der Frauen behaupten. Morgen kannst du in der Zeitung lesen, wie sich einige heldenhaft gegenseitig die Köpfe eingeschlagen haben.



Polarlicht, Täve Schur und „Planta inkognita“

 „Ich kaufe eins“, „ich auch“, „und ich zwei“ tönt es von den Ehemaligen. Die Rede ist von meinem geplanten Buch. Wir sitzen nach 45 Jahren, die Seminargruppe ist fast vollständig beisammen, in der ehemaligen Studentenkneipe. Ich habe die Geschichte „Schigu“ vorgelesen und nun höre ich von allen Seiten, was sonst noch so passiert ist.

Peti, unser alter Seminargruppensekretär hat die Einladung zur Immatrikulation aufgehoben. Mitzubringen waren außer Passbildern, Reifezeugnis, Sozialversicherungsausweis und polizeilicher Anmeldung auch Bettwäsche, Essbesteck, Schreib -, Sport – und Arbeitszeug sowie Vasen, Bilder, Decken und Kissen zur wohnlichen Gestaltung der Internatszimmer. Und nun geht es los, Geschichte auf Geschichte wird ausgekramt.

 Einige Male waren wir am Feißnecksee, wohnten da in Riesenzelten. Die Jungen rissen das unsere ein, fanden das lustig. Pech gehabt, wir blieben einfach liegen, sie bekamen Angst, befreiten uns aus den Planen und bauten das Zelt wieder auf. An einem der schönen Sommerabende wurden wir überrascht. Leuchtende, violett flammende Feuer fuhren über den Himmel, schwankten, wallten auf, sanken zusammen, spiegelten sich geheimnisvoll im See, Polarlichter, kaum zu glauben, in unseren Breiten nicht zu erwarten. Abend für Abend tanzten wir mit bloßen Füßen zur selbst gemachten  Musik der Studenten auf der Freilichtbühne, bis uns der Tod eines jungen Helfers aus der Sorglosigkeit riss, er war mit dem Kanu gekentert, konnte nicht schwimmen. Kein gutes Vorzeichen, ein Schock!

Wir hatten das Sommerlager der Pioniere vorzubereiten. Was wir dazu taten, weiß ich nicht mehr. Dann war es so weit, die Kinder sollten anrücken. Beim Appell verkündete der Lagerleiter: „ Zieht FDJ-Hemden an, heute ist der Tag der Empfängnis“.  Diese Zweideutigkeit freute besonders unsere Jungen. Ich überhöre so etwas.

Es gab eine freiwillige Feuerwehr. Als Melder musste ich im Fall eines Brandes zum See rennen und den Bedienern der Pumpe „Wasser marsch“ zuschreien. Feueralarm! Von allen Seiten eilten die Studenten herbei. Bill Haley, das war Wolfgang von B. stürmte mit im Weckglas gefangenen Molchen heran und wunderte sich, dass wir darüber lachten. Er war der Einzige, der uns vor dem Examen Richtung Westen verließ. Kurze Zeit später wurde ein Fremder in sein vormaliges Zimmer zu den verbliebenen Jungen einquartiert.        „ Was soll das? Bestimmt einer von Horch und Guck“, dachten die Jungen und verscheißerten den Ungebetenen, „wie reagieren wir denn nun auf die Flucht Bill Haleys? – Wir schließen ihn aus der FDJ aus.“ Weg war der Ungebetene. Unsere Post holten wir für die ganze Gruppe aus der nahen Postbaracke ab. Aha, nun wurde klar, warum Bill Haley ein Postschließfach in der Stadt gemietet hatte.

 Wer nie Post bekam, war Peti, da seine Freundin bei uns im Internat wohnte, eines Tages aber doch, er hatte sich zu unserem Vergnügen selbst eine Karte geschrieben. An den Wochenenden fuhr er wegen der Entfernung nicht nach Hause und trug mir auf: „Bring  was Schönes mit“. „Das mache ich, “ und brachte ihm drei saure Gurken.

Der Weg vom Bahnhof zum Internat war weit. Ich kam mit Sigrid auf den Bahnhofsvorplatz, da stand ein Krankenwagen, die Sanitäter lümmelten am Bockwurststand. „ Los, die flirten wir an, vielleicht fahren sie uns“, sagte Sigrid. Und wirklich, die beiden fuhren uns, drehten eine Ehrenrunde vor der Mensa. Vor den verblüfften Augen der Studenten stiegen wir mit unseren Koffern aus dem Krankenwagen.

 Ansonsten ist dieser Vorplatz berüchtigt wegen der Motorradfahrversuche der Mädchen, eine fuhr sogar die Stufen zur Mensa hinauf, unfreiwillig, versteht sich und berühmt wegen der Gäste. Die Fahrer der DDR Radrundfahrt wohnten bei uns, unter ihnen Täve Schur und Bernhardt Eckstein, die ums Rondell laufend, den kleinen Sohn unseres Psychologen neckten, bis sie ihm endlich das ersehnte Autogramm gaben.

Die Botanikprüfung stand bevor. Werkausbilder F. bespöttelte uns: „Ihr mit eurem Pflanzenlatein, sagt planta inkognita, das stimmt immer.“ Wir aber fürchteten uns vor Doktor Buschbecks Blumenstrauß in der Prüfung. Schigu, die weitaus mehr Pflanzen kannte als ich, stolperte über den giftigen Hahnenfuß. Sie jammerte, dass danach alles schief lief. Ich war die nächste. Assistent Kudoke gab mir eine Pflanze. Dass es ein Hahnenfußgewächs war, sah ich, logisch erriet ich, dass es der giftige war. Buschbeck strahlte, alles Weitere lief sozusagen von selbst.

Es ist auch „lieber Lottki“ bei unserem Treffen. Lotti bekam nach unserer Polenfahrt einen Brief mit dieser Anrede. Zu viert hatten wir in Gera Bronze bei den DDR Meisterschaften im GST Mehrkampf geholt, trotz widriger Umstände. Auf der Zehnkilometerstrecke wurden wir von einem heftigen Gewitterregen attackiert, die freundliche Einladung, uns in einer Gartenlaube unterzustellen, konnten wir ehrgeizigerweise nicht annehmen. Wir rannten und rannten, den letzten seifigen Lehmhang überwanden wir auf dem Hintern rutschend. Schlammüberkrustet stellten wir uns nach dem Wettkampf mit unseren Kleinkalibergewehren in voller Montur unter die Dusche und stiegen dann stolz aufs Siegerpodest.

In Polen ging alles ein bisschen daneben. Abfahrt am 13. August 1961, in Berlin durften wir den Ostbahnhof nicht verlassen, nichts zu essen. An der polnischen Grenze stundenlanger Aufenthalt, es fehlte der richtige Stempel für die Gewehre, nichts zu essen. Endlich im Quartier löffelten die Jungen zum Erstaunen der Gastgeber Teller um Teller den wässrigen Borschtsch, nicht ahnend, dass das die Vorsuppe war. Wir Mädchen dagegen ernteten Verwunderung beim Wettkampf, weil wir das Signal zum Abnehmen der Schutzmasken nicht verstanden und uns Kilometer um Kilometer unter erschwerten Bedingungen über die Wettkampfstrecke quälten. Zum Schluss trösteten wir uns, „Teilnahme ist entscheidend.“

Noch viele Geschichten machen an diesem Abend die Runde, wie wir Schmakeduzien benutzten, um das ganze Wohnheim mit dicken Samenwolken zu beschneien, wie Pummel schlafwandelnd, Kopfkissen unter dem Arm durch `s Internat geisterte, wie Isa mit Socken ins Bett ging, um das Füße waschen einzusparen, wie der arme Peti in zu kurzen geborgten Hosen und zu weitem Jackett erschien, weil sein Koffer bei der Examensfeier immer noch nicht angekommen war.  

Eine Lachsalve löst die nächste ab. Ich brauche nicht hinzusehen, ich weiß wer sich da amüsiert, die Lachmelodien haben sich nicht verändert, sie waren in meinem Kopf versteckt, jetzt kommen sie hervor und geben sich zu  erkennen. Jeder Mensch hat so vergnügliche Belanglosigkeiten in seiner Erinnerung. Vor Zeiten haben wir  uns daran vergnügt, beim gemeinsamen Lachen darüber kehrt im Alter kurzzeitig die Jugend zurück. Äußerlich gibt es bei uns Ehemaligen viele Veränderungen. Alle sind, wie im Gedicht vorgetragen wird, vor sich hingereift. Und das muss nicht unbedingt von Vorteil sein, wie du von warzigen Kartoffeln, mehligen Äpfeln, madigen Pflaumen und geplatzten Tomaten weißt. Der Mensch ändert sich äußerlich und auch sonst. Inge erklärt es, sein Handeln muss er den Umständen anpassen, nur der Charakter bleibt sich treu. Wirklich alles noch wie eh und je, ich fühle mich von den gleichen Leuten angezogen wie vor einem halben Jahrhundert. So kommt es, dass ich mich mit Sigrid wieder sofort wortlos verstehe. Jemand sagt beim Essen, er habe es sich angewöhnt, immer etwas auf dem Teller übrig zu lassen. Sigrid guckt erwartungsvoll in mein Gesicht und liest darin, was sie selbst denkt, „aber geholfen hat das nicht.“ Der Draht zu den alten Freunden funktioniert. Zu anderen ist die Leitung weiter gestört, wenn ins Haus ein-, aber zum Abendbrot ausgeladen wird, wenn gestandene Leute beschulmeistert werden, wenn Vortragskunst ermüdend oder gar schmuddelig daherkommt.

Da sagt mir Reinis Herzlichkeit, „wie schön Atze, dass du da bist, du hast dich nicht verändert“, Petis Zuneigung, „du bist mir immer noch die Liebste“, schon eher zu. Ja, ja Peti, als wir uns kennen lernten, war ich noch zu dumm und bei späteren Begegnungen war mal der eine, mal die andere gebunden.

Aber was sind wir nun?

Unsere kluge Inge hat es auf den Punkt gebracht. „In`s Gruppenbuch der Abi-Klasse mag ich nichts eintragen. Schon früher fand ich es doof, mit Erfolgen zu prahlen. Das Berufsleben ist zu Ende, das Familienleben ist zu Ende, was ich jetzt mache ist doch auch Scheiße, Freizeitbeschäftigung, singen im Seniorenchor, Töpferkurs und Reisen.“ Ich stimme zu, für´s Gruppenbuch taugt das wenig, aber gleich Scheiße? Es ist gut, sich seines jetzigen Status` bewusst zu sein und den Zustand zu schätzen, besser, als sich an frühere Erfolge oder schlimmer, eingebildete Bedeutsamkeiten zu klammern und seinen angemessenen Platz nicht zu finden, ihn nicht anzunehmen.  Ja, jetzt ist Freizeit. Wir haben sie uns verdient. Möge der Mut reichen, mit ihr lange sinnvoll das Altersloch zu stopfen, damit wir nicht hineinstürzen.

 

Aus der Schule geplaudert

Zieh deinen weißen Kittel aus, wenn du in meine Klasse gehst, die Kinder denken sonst, du bist ein Arzt, sagt mir Doris Meretz. Sie hat Haushaltstag und ich soll sie in ihrer ersten Klasse vertreten, wenige Wochen nach Schuljahresbeginn. Wohl ist mir nicht, mit älteren Schülern kann ich umgehen, was fange ich mit den kleinen an? Sie können noch nicht lesen und nur ganz wenige Buchstaben schreiben. Doris hat mir eine Vorbereitung in die Hand gedrückt, aber wird das reichen? Schon nach kurzer Zeit trippelt die winzige Patritcia nach vorn, zieht mich am Rock, wie heißt du mal noch? Alle wollen mir jetzt etwas erzählen, die Kinder werden unruhiger, ich kribbeliger, bis ich sage, jetzt sitzen wir mal wie die Mäuschen. Piep, piep, piep, tönt es begeistert laut und lauter aus allen Kehlen, da hab ich ja was angerichtet. Jetzt fehlt nur noch der lauschende Direktor Schubert am Hörrohr auf dem Gang, ich schwitze und warte auf das erlösende Klingelzeichen.

Drei Jahre später, letzter Schultag, Schubert  teilt meinem Mann mit, dass er die Meretz - Klasse leiten und in Mathematik unterrichten wird. So, so, er ist Diplomsportlehrer, hat bisher weder eine Klasse geleitet, noch Mathe unterrichtet, er hätte wenigstens mal gefragt werden wollen.

Ich tröste ihn, so schwer ist das nicht, ich helfe dir und piep, piep werden sie als zehnjährige nicht mehr machen. Die Klasse wird ein Glücksfall für Peter, für unsere Familie, weit über die Schulzeit hinaus. Wie schön, wenn Peter mir gegenüber am Tisch sitzt, wir an unseren Vorbereitungen arbeiten und uns von Zeit zu Zeit mit ein paar Worten austauschen. Er behält diese Klasse sieben Jahre bis zum Abschluss, kennt jedes Kind, jede Regung. Ich stöbere in seinem alten Klassenleiterplan, um mir nach dreißig Jahren Namen ins Gedächtnis zu rufen, lese knappe Bemerkungen, die mir die Schüler sofort wieder vors Gesicht holen.

B. unreif, verspielt, ich sehe wie er lächelnd seinen Haarküsel dreht. S. unbeherrscht, willensschwach, ich höre die Mutter, wie sie jede Kritik am Töchterlein herunterspielt. M. fleißig ,wissbegierig, ich erinnere mich, wie sie wütend wird, als sie mit zwei Jahren Verspätung erfährt, in dem im See eingefrorenen, von Füchsen angefressenen Wildschwein haben die Jungen nur scheinbar mit ihren Messern gestochert und dann die blutigen Klingen abgeleckt. Sie hatten das Wildschwein  am Tag zuvor entdeckt und mit Marmelade, Taschenlampen und Messern ausgerüstet bei einer Nachtwanderung die Mädchen erschreckt.

 Große Tränen gibt es, als Patritcia bei der Abschlussfeier Beethoven „Für Elise“ spielt. Das Stück begleitete die Klasse alle Jahre. Bereits im vierten Schuljahr  hämmerte Patritcia, ihre Beine reichten nicht bis zur Erde, mit kurzen Fingern die Elise ins Klavier. Nun hören unsere Ohren, wie sehr das immer noch körperlich kleine Mädchen gewachsen ist. Was für ein Jammer, wegen einer Sehnenscheidenentzündung kann sie das schon sicher geglaubte Studium an der Musikhochschule nicht aufnehmen.

Peter begegnet seinen Schülern liebevoll, mit Achtung und Verständnis. Sie verehren und vertrauen ihm. Beim Wandertag überqueren sie schwimmend, die Kleidung in Plastiktüten auf dem Kopf, den Gosener Kanal. Petra M. kann als Einzige nicht schwimmen. Bereitwillig lässt sie sich in einem Autoreifen über den Kanal ziehen. Wie alle anderen ignoriert sie die Brücke, die zweihundert Meter entfernt ist. Vielleicht ist es gerade das Ungewöhnliche, nicht immer durch Schulvorschriften Geregelte, das die Schüler anzieht. Die Klasse überquert im Winter einen gefrorenen See. Plötzlich ein unheimliches Knistern, „auseinander“, brüllt Peter, die Schüler spritzen in alle Richtungen davon. Das Eis ächzt und kracht, ein langer Riss hat sich gebildet. Niemand erfährt davon, die Schüler schützen ihren Lehrer. Sie mögen, dass er über ihre Scherze und kleinen Streiche freundlich hinweggeht, wenn sie ihm etwa das Mathematikbuch verstecken, das er unbedingt braucht, ihr wisst, er ist kein ausgebildeter Mathelehrer. Im Geographieunterricht wird Sedimentgestein behandelt. Die Schüler sollen Beispiele sammeln, keine Kohle, es sei denn, sie bringen diese zu uns nach Hause. Es klingelt, ein Päckchen liegt vor der Tür, über die Treppen poltert es mit Karacho aus dem Haus. Vogelsand, Salz und eine Presskohle im Päckchen erklären sich mit einem kleinen Zettel: „Wir hoffen, den Auftrag zufrieden stellend erfüllt zu haben. Geologenteam Czylwik, Paulo .“ Später fragen wir,  wie habt ihr uns gefunden? Nach dem Bewuchs auf dem Balkon, Sonnenblumen und Maispflanzen, das müssen sie sein! Detlef Paulo will Kriminalist werden. Seine Vorbereitung beginnt schon, er klettert mit Czylwik auf das Garagendach hinter dem Krankenhaus und versucht, in die Pathologie zu spähen.

Nach der Schulzeit besteht die Verbindung zu den Schülern weiter. Überraschend taucht mal der eine, mal der andere auf. Paulo bleibt der Mund vor Staunen offen, als ihm unser dreijähriger Sohn Steine zeigt,  das ist Granit, das ist Basalt, das ist Porphyr. Gottschling und Käppner erscheinen gerade als meine Waschmaschine den Geist aufgibt. Am nächsten Tag schon klingelt es, Czylwik steht da und sagt, ich habe gehört, Ihre Waschmaschine ist kaputt? Ich lerne im Waschmaschinenwerk. Und schon macht er sich an die Arbeit. Als Paulo zur Armee geht, kommt regelmäßig Post.

 …habe mich mächtig über Ihre Weihnachtskarte zu Ostern gefreut,  ja, ja so etwas war typisch für meinen Peter … meine Kumpels können gar nicht begreifen, wie man sich mit seinem Klassenlehrer schreiben kann … jeden Abend nehme ich ein Bad im Schnee wie damals mit Ihnen auf der Klassenfahrt … grüßen Sie Ihren Sohn, danke für seine Zeichnung, er wird bestimmt mal Maler werden …

Paulo schreibt also . Eines Tages aber steht eine junge Frau mit einem Baby vor der Tür.  Ich bin Detlef Paulos Frau, er hat aus der Kaserne geschrieben, ich soll euch besuchen und das Kind zeigen.

Eine Freude dieser Paulo! 1979 kommt ein Brief, er entschuldigt sich, dass er vergessen hat, uns an seinem Polterabend das geborgte Buch „Geschichte der SED“ wiederzugeben. Wir haben es nicht vermisst, hatten es vergessen und inzwischen hat sich ohnehin alles gewandelt. Peter ist bereits schwer krank, immer noch telefoniert er mit Paulo. Zu einem letzten Treffen kommt es nicht mehr.

 Im Rathaus schreibt Paulo ins Kondolenzbuch: „ Ich habe Dir nie gesagt, dass Du als Lehrer, als Mensch und vor allem als Mann immer  das  Vorbild für mich als Kind, Jugendlicher und auch als Erwachsener warst … Du bist einfach anders gewesen als die anderen. Die Art, die Du Dein eigen nennen konntest, war überzeugend und natürlich … ich weiß, dass Du mich mit Deinem Wirken als Lehrer geprägt hast und ich bin dankbar dafür …“

 


Nebulöses   

Der Bruder kam zur Schule. Kurz vor Weihnachten erklärte er: „Da geh ich nicht mehr hin, ich kann lesen, schreiben, rechnen, das genügt!“  „Aber Heining ,“ schmunzelte der Vater, „ dein Kopf ist wie eine Kommode mit vielen Schubladen, die sind noch lange nicht voll.“ „Bei Edda auch nicht, die geht schon sechs Jahre zur Schule?“, wollte mein Bruder wissen. „ Ach, bei ihr ist der Kopf schon keine Kommode mehr, eher eine Wundertüte, aus der immer neue Überraschungen kommen!“ war Vaters Antwort. Wir waren beide enttäuscht, mein Bruder, weil seine Kommode noch lange nicht voll sei und ich, weil ich lieber auch eine ordentliche Kommode gehabt hätte und keine alberne Wundertüte.                                                                                                                      

 Heute denke ich anders darüber. Das Gehirn ist phantastisch, rätselhaft, so erklärt und unerklärt. Eine Wundertüte ist ein guter Vergleich.Voraus schauend handeln, lernen, behalten,  was passiert da  in unserem Gehirn? Gefühle werden hier gesteuert, von außen durch Musik beeinflusst. Ungeborene reagieren darauf.                                                                                                              Zahlreiche Wissenschaftler beforschen das Gehirn, finden auch dies und das heraus, vieles bleibt  im Nebel.                        

Manchmal  stecken  Überraschungen in der Wundertüte. Ein Forscher hat entdeckt, dass  das schädliche Plaque im Gehirn bei Alzheimermäusen  durch Metylblau aufgelöst wird.Eine Hoffnung?  Oft noch tappen wir im Dunklen.Was wissen Tiere von sich? Es gibt Elstern, die erkennen sich im Spiegel, was wissen  sie von ihrem Ich?                                    

Was weiß ich von mir?Und was weiß ich von unserer 96jährigen Mutter,  die  nur noch wenige Bilder aus der Kindheit in ihrem Gedächtnis zu haben scheint.  Ich sehe mit Bestürzung, wie  ihr  das Kurzzeitgedächtnis  schwindet, ihr Interesse an der Welt geringer wird. Es schmerzt als sie den Bruder fragt: „ Wer sind Sie denn?“                                                                                  

 Manchmal  lichtet sich der Nebel, sie zeigt mir die gelbgefärbten Blätter  der Bäume. „Guck mal wie schön, es ist Herbst!"  Ihre Entwicklung läuft rückwärts, nähert sich der Kindheit, also spielen wir und raten. Eifrig sucht sie nach Farben.                     

 Ich necke sie und sage: „Ich sehe was, was du nicht siehst und das sieht blau aus!“                                                                               Sie sucht und sucht und lacht aus vollem Hals, als ich sage: „Das sind deine Augen!“



  Spitzki und Mattek

Beim Tierarzt trippelt ein winziger Igel über den Tresen. Jemand hat ihn abgegeben. Den Winter würde er  nicht überstehen, er ist zu leicht. Vorsichtig setze ich ihn auf meine Hand. Der Winzling schnüffelt in die Luft und lässt sich sacht streicheln. Aus dem spitzen Gesichtchen blinzeln mich zwei braune stecknadelkopfgroße Augen an. Er sitzt ganz still und schnieft leise.  Zögerlich stimmt Peter zu, ihn zu Hause aufzupäppeln. Igel haben Flöhe! Vorsorglich wird er von Ungeziefer befreit und mit guten Ratschlägen vom Tierarzt versehen.

Wir setzen ihn in unserer Küche in eine riesige Kiste mit Laub, Wasserschälchen und Futternapf. Geschäftig raschelt er herum, untersucht alles, patscht durchs Wasser, schlägt sich schmatzend den Bauch voll, dann gräbt er sich im Laub zum schlafen ein. Polly und Pascal, unsere Katzen beäugen den neuen Hausgenossen. Am ersten Tag springen sie in die Kiste, naschen am Futter und kosten vom Wasser. Wahrscheinlich machen sie schon in der ersten Nacht Bekanntschaft mit seinen Stacheln, in der Folgezeit sehen wir sie nur noch in Betrachterrolle. Aufgereckt stehen sie auf den Hinterbeinen, halten mit den Vorderpfoten den Kistenrand fest und beobachten den Stacheligen. Spitzki, so haben wir das kleine Kerlchen genannt, wünscht solche Aufmerksamkeit. Wenn er längere Zeit unbeachtet bleibt, fängt er bellend an zu husten. Wir nehmen ihn auf die Hand, reden mit ihm, „du hast wohl Langeweile kleiner Schlaumeier“, schon ist er still. Beim Fernsehen sitzt er hochzufrieden auf Peters Brust. Kommt er wieder in die Kiste, hustet er.

 Seine Manieren sind nicht die Besten. Das laute Schmatzen ist noch beeindruckend aber er scheißt auf sein Futter, in sein Wasser und je größer er wird, zunehmend in die ganze Kiste. Jeden Tag muss ich regelrecht ausmisten. Was sind doch da unsere Katzen für reinlich vornehme Persönlichkeiten. Als Spitzki anfängt immer länger zu schlafen und sich in der Einstreu und unter Zeitungen einzugraben, setzen wir ihn auf die Waage. Siehe da, er hat das vorgeschriebene Wintergewicht bereits überschritten. Bei uns ist es zu warm. Wir bringen ihn zu unserer Freundin Renate aufs Gehöft. Im Stall in einer alten Kaninchenbox nimmt er noch ein bisschen vom angebotenen Futter, bevor er sich endgültig schlafen legt. Renate gibt uns regelmäßig Telefonbericht. Im Frühjahr setzt sie ihn in seiner Kiste an den Zaun. Vorsichtig hangelt er sich über den Rand, reckt seine Nase in die Luft, schnieft genüsslich und verliert sich im Gras. Ein paar Tage kommt er noch zum Futternapf, bevor er sich endgültig über den Acker davon macht.

Auch Mattek, Renates  Kater, treibt der Frühling hinaus. Alle  ihre Katzen, wie viel es eigentlich sind weiß ich nicht so genau, gehen mal kurz mal lang auf  Wanderschaft. Nur Lutz, der schwarze Hofhund bleibt immer da und  kennt sich aus mit allen Bewohnern. In diesem Jahr kommt Mattek nicht zurück. Er wird doch nicht mit Spitzki in den Wald gezogen sein?

Eines  Tages erscheint ein magerer zerzauster Kater auf dem Hof. Alle Katzen fauchen, sie beißen und jagen ihn, versuchen ihn aus dem Revier zu vertreiben. Der Zerbeulte rettet sich mit einem Satz in Lutzens Hütte. Siehe da, der Hund duldet den Fremdling, teilt mit ihm das Futter und verteidigt ihn vor den anderen Katzen. Als die Blessuren verheilt sind und das Fell wieder glänzt, erkennt ihn Renate. Das ist Mattek, den sie schon abgeschrieben hatte. Von Spitzki allerdings erzählt der Kater nichts.


Straßenbahngeschichten

Wer ohne Stau und Stress den Osten Berlins erkunden will, kann mit der Sechs von Mahlsdorf bis in die Chausseestraße fahren. Ich guck aus dem Fenster, beobachte die Leute und der summende Ton von Bahn und Gleis weckt Bilder und Bruchstücke, die ich schon vergessen glaubte.

Ziemlich laut war sie, die alte Rostocker Straßenbahn, mit offenem Perron und Schaffner auf einem erhöhten Platz. – Schnaffner- war mein erster Berufswunsch. Wahrscheinlich waren der klappernde Geldwechsler und die Knipszange für das kleine Mädchen beeindruckend.

 Allein mit der Straßenbahn fahren war nicht erlaubt. Gerade das machte die Sache reizvoll.

Rita, eine Schulfreundin hatte ein paar Groschen im Portemonnaie und so liefen wir mit dem dreijährigen Bruder nach Bramow zur Haltestelle, um eine Station zu fahren und Kaufmann Schulz in unserem alten Wohnhaus in der Mozartstraße zu besuchen. Natürlich waren wir viel zu schnell am Ziel und hatten Mühe, rechtzeitig auszusteigen. Eine Frau half uns, den Bruder herauszuheben. Sie stürzte hin und kam selbst nicht mehr rechtzeitig in die Straßenbahn. Wir machten uns mit schlechtem Gewissen auf den Weg und ernteten obendrein eine handvoll Bonbons. Dann trödelten wir am Schwanenteich zurück. Diese Strecke war kürzer als An- und Abmarsch zur Straßenbahn beim Hinweg. Der Ärger kam später, denn natürlich erfuhren die Eltern vom Kaufmann die Geschichte. Den Sturz der Frau habe ich damals nicht gebeichtet.

Fünfzig Jahre später fordert im Pekinger Bus die Schaffnerin – mit Wechselbox und Zange - eine junge Chinesin auf, mir Platz zu machen. Da kannst du sehen, wie lang mein Leben schon läuft.

Großvater, der in der Familie lebte, hat mir gezeigt, wie man Strümpfe stopft. Meine Ergebnisse waren stets etwas chaotisch. Auf dem Perron stand eine Frau mit phantastisch ebenmäßig gestopften Strümpfen. Ich konnte mich nicht abwenden, ich habe die Arbeit bewundert. Als die Frau an der Werft ausstieg, pfiff sie mich an, dass es ja wohl nicht schlimm sei, wenn sie geflickte Strümpfe anhat und ob ich etwas dagegen habe. Mir blieb die Bewunderung im Hals stecken, die einzige Äußerung war ein knallroter Kopf. Bis heute wurmt es mich, dass ich ihr nicht gesagt habe, sie kann wunderbar stopfen. Ein Graben verlief zwischen Warnemünder Chaussee und Schienen, den konnte ich leicht überspringen und mir damit einen kleinen Umweg ersparen. Ratsch machte das neue enge Seidenkleid, als ich auf dem Weg ins Theater den gewohnten Weg nahm. Heute ist ein langer Schlitz das Normale, aber ich ging langsam wieder nach Hause.

Auf dem Perron stand eine Mutter mit zwei großen Söhnen. Sie sprach lächelnd hinauf, die beiden lauschten aufmerksam und lächelten herunter. Nie ist mir dieses beeindruckende Aufschauen aus dem Sinn gegangen. Ich wollte auch wenigstens einen Sohn, größer als ich, und der Name sollte Peter sein. Drei Jahre habe ich später gebraucht, Vater Peter von der Notwendigkeit eines großen Sohnes zu überzeugen. Er war der Meinung, „ ein Kind  ist genug“ und das war die bildhübsche Antje, die ich mitbrachte. Er nahm sie sofort als eigenes Kind an und  sie betrachtete ihn als Eigentum und glaubte lange, er habe mich ihretwegen geheiratet.

Peter heißen alle in der Familie. Mein Mann war der älteste, Peter der Erste. Dann kam sein Neffe, Peter der Zweite. Ihm verdankten wir später die Autoscheibe vom Müllplatz für unser erstes orangefarbenes Uraltauto Archibald, das wir bis dahin mit einer Plastikfolie repariert hatten und in dem wir bei aufgehobener Bodenmatte durch die Rostlöcher die Fahrbahn sehen konnten. Der dritte war Peter aus England, Sohn von Schwester Edith. Und mein Straßenbahnwunsch war Peter der Vierte. Nur einmal, der vierte war sechs Wochen alt, ist es uns gelungen, alle zu versammeln.

Die Namensgleichheit von Vater und Sohn war nie ein Problem. Entweder sie hörten alle beide oder sie hörten beide nicht. Später bei ihren Sportkumpeln wurden sie Senior und Junior genannt und untereinander sagten sie Alter Herr und Söhnchen.

 

 

Wetterlagen

An Regenwetter in Körkwitz erinnere ich mich nicht .Das kann nicht sein. Es kann nicht zehn Jahre lang Sommer für Sommer die Sonne geschienen haben. Ist da vielleicht noch mehr verklärt? In meiner Erinnerung gibt es neben den anhaltenden duftenden Sommern nur ein wunderbuntes  Wetterleuchten über dem Bodden.Wir kommen in halber Nacht aus dem Ribnitzer Kino, bestaunen und fürchten zugleich ein heranziehendes Gewitter. Es kommt nicht näher, schafft den Sprung über den Bodden nicht und lässt uns ungeschoren nach Hause.

An der See kann man wie nirgends Wetterveränderungen heranwachsen sehen. Am westlichen Horizont sammelt sich Dunst, langsam verdichtet er sich, wird dunkler, nimmt Gestalt an und wenn die sich auftürmende Wolke mit ihren obersten Fetzen die Sonne zu verdecken beginnt, bleibt noch eine halbe Stunde, den Strand trocken zu verlassen. Das stimmt zumindest für den Bereich an der Steilküste zwischen Nienhagen und Warnemünde. Auf dem Darß habe ich das ganz anders erlebt. Während der Mittagspause im biologischen Praktikum wandere ich mit Schorsch, einem Kommilitonen Richtung Sandhaken. Das Meer schläft hellgrün unter wolkenlos blau leuchtendem Himmel. Nirgends sonst findest du solchen Himmel. Das macht das Meer. Vor einigen Jahren verfuhren wir uns in England. Ich sagte Peter, „wir müssen am Meer sein, ich sehe es an der Farbe des Himmels.“Inzwischen haben wir am Ende der Bucht die Spitze des Sandhakens erreicht und erstarren. Die grüne sanfte See trifft nahtlos auf dunkellila wachsende Wellen, weiße Schaumkronen blitzen auf. Der Himmel droht dunkel. Wir wenden den Blick, strahlender Sommerhimmel zaubert immer noch grünes, friedliches Meer. Wir stehen stumm, sehen und staunen, können uns von diesem gegensätzlichen Naturspiel nicht lösen. Wir stehen und stehen. Als wir die Erstarrung abschütteln, ist es viel zu spät. Pitschnaß, abgehetzt, aber glücklich erreichen wir die Zelte.

In diesem Jahr lerne ich den Darß von einer ganz anderen Seite kennen. Eine Truppe unseres Chores ist zum Jahreswechsel in der Jugendherberge Ibenhorst mitten im Naturpark und wird eingeschneit. Mühsam öffne ich die Haustür und bekomme als erstes von Karin Besen und Schippe in die Hand. Mit dem Auto ist kein Wegkommen möglich, also machen wir uns zu Fuß auf den Weg. Vier Kilometer bis zum Weststrand sagt die Karte. Die aber haben es in sich. Sarah stapft voraus im tiefen Neuschnee, wir folgen im Gänsemarsch. Eine dicke weiße Schneeschicht schmückt die Bäume. Die Zweige beugen sich tief unter der Pracht, die unteren verschmelzen mit dem hohen Schnee am Boden. Wir sind im Reich der Schneekönigin. Von Zeit zu Zeit knackt, knirscht und kracht es, dann kann ein Baum die schwere  Last nicht länger tragen. Vorsichtig prüfen wir in die Runde und halten uns streng an die Wegmitte. Nur selten sehen wir einen kleinen  Vogel oder hören seinen Ruf. Eine zweite Wandergruppe holt uns ein. Wir lassen sie gerne vorbei, sollen sie doch Spur laufen. Endlich, nach langer Zeit fällt ein neues Geräusch ins Ohr, das Rauschen des Meeres. Es wird lauter, wir sind hinter dem Deich. Oben empfängt uns ein scharfer Wind. Bleiern grau drückt der Himmel auf das gleichfarbene Meer. Der Horizont verschwimmt, wie auch der ferne Sandhaken nach dem ich spähe.  Nur wenige Minuten vergönnt uns der kalte Wind am Strand, dann flüchten wir zurück in den weißen Märchenwald. Wieder zu Hause in Berlin frage ich Petra nach ihren beeindruckenden Schwarz-Weißaufnahmen. Sie lacht, „ es war ein Farbfilm im Apparat, wir hatten nur Weiß- und Grautöne an diesem Tag.“

Vor Jahren habe ich das schon einmal erlebt, eingeschneit auf der Insel Usedom. Das Meer  war zugefroren. Was für ein Schauspiel als der Wind dreht, der Himmel und Meer aufreißen und strahlend blaues Wasser das weiße Eis zu Schollen auftürmt. Später erfahre ich, dass dabei zwei Kinder abgetrieben und mit Hubschraubern zurückgeholt worden sind.

Wetterumschwung ist immer beeindruckend.

Auf den Malediven sind sie darauf eingestellt. Wenn der tropische Regen unseren Inselwinzling überfällt, werden im Restaurant die Bastmatten herunter gerollt und alles geht in gewohnter Gelassenheit weiter. Nach solchem Regen gibt es ein phantastisches Abendrot, der Himmel färbt sich in allen Rottönen von Orange bis Lila, draußen ziehen die Delphinschulen vorbei .Wer diese Tiere in Freiheit sieht, kann kein Delphinarium zur Touristenunterhaltung mehr ertragen. Schnell fällt die Nacht herab. Das Kreuz des Südens ist eine Enttäuschung, es ist klein. Später heißt es bei schönem Abendrot immer bei uns, „ ein maledivischer Himmel.“

 Einmal überrascht uns der tropische Regen auf dem Meer. Da stellt sich ein Bootsführer auf die Bugspitze und sichert die Fahrt durch Rufe an den Steuermann. Wir sehen nur eine undurchdringliche Wasserwand und flüchten in die Kajüte. Dicht gedrängt stehen die Schnorchler. Ich muss lachen, Peter hat`s die Badehose zerfetzt. Mit blankem Hintern steht er in der Menge.

Bei einer nächtlichen Fahrt bleibt es ruhig, Sterne blinken mit dem Plankton um die Wette, Meeresleuchten! Wenn  die Männer die Angelschnur herausziehen, blitzt die Leine im Funkengewitter. Die fliegenden  Fische vom Tage sind nicht mehr da.

Im flachen Wasser der Lagune übe ich das Schnorcheln, ich ersticke fast, verschlucke eine Menge Wasser und komme zu keinem Ergebnis bis mir Peter schmunzelnd erklärt, dass der Schnorchel nicht in den Hals gehört sondern dass man ihn vor den Zähnen hält.

Und dann kommt mein erster Schnorchelgang ins Meer. Ich packe Peter am Hemd und treibe ihm nach. Das ist eine andere Welt. Aus dem flachen Wasser gleite ich über das Riff. Wundersame Formen und Farben der Korallenstöcke, durchscheinende, heiligenscheinartige, lebende Korallen, lustigbunte, groteske Fische versetzen mich in ein leuchtendes Märchenland.

       Dann überquere ich das Riff. Ich schau in eine unendlich blaue Tiefe, große farbige Fischschwärme stehen unter mir, sind um mich herum, begleiten mich. Ein dicker lila Drückerfisch schnappt nach mir, beißt in meine Flossen, ich bin zu nah an seinem Revier. Unter mir steht ein Riesenbarsch, er hat Zimmergröße und bleibt alle Tage an seinem Platz. Nur die dickwalzigen  Muränen in der Tiefe sind mir unheimlich.

Peter hat auch schon Haie gesehen, darauf warte ich. Von der Strömung lasse ich mich an der Meerseite entlang des Riffs treiben und da erscheint er neben mir. Elegant, groß, viel länger als ich, gleitet er einige Zeit neben mir. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl erfüllt mich, ich schwimme mit dem Hai. Dann hat er genug und taucht einen Meter unter mir hinab und davon.

 

 

Kleinvieh macht auch Mist 

Ich ging noch nicht zur Schule, der Krieg war gerade zu Ende, da ging der Großvater mit Eimer und Schaufel vor die Tür, sammelte frische Pferdeäpfel ein und verteile sie im kleinen Hausgartenauf dem Gemüsebeet. Kleinvieh macht auch Mist, sagte er. Das verstand ich nicht, Pferde sind doch kein Kleinvieh!

Als die Mutter mit einem Sack voll Ähren heim kam, die sie mühsam nach der Mahd, auf dem Feld des Bauern hinterm Wald,  aufgelesen hatte, drosch der Vater  das Getreide über einem Laken mit einem dicken Schlegel aus, trennte, das Laken schüttelnd, die Spreu vom Weizen,  malte die Körner in der Kaffeemühle , setzte Teig an , formte einen Brotlaib und trug ihn zur Backstube. Ich durfte  den köstlich Duftenden wieder abholen. Niemand schalt mich, weil ich auf dem Weg schon an der Kruste geknabbert hatte. Heißhungrig fiel die Familie über das Brot her. Und wieder hieß es: Kleinvieh macht auch Mist. Nun verstand ich gar nichts mehr.

Im Gärtchen war eine winzige Ecke mit Zaun und kleinem Ställchen abgetrennt. Da hielten wir zwei Hennen, die braune Minna und die weiße Olga. Sie wurden mit Abfällen gefüttert und legten regelmäßig ihr Ei ins Nest. Eines Tages blieben bei Minna die Eier aus. Sie hat zu wenig Bewegung, meinte die Nachbarin. Minna wurde in die Wohnung im zweiten Stock des Hauses gebracht. Großvater ließ sie aus dem Fenster flattern, unten fing die Mutter sie wieder ein und schon setzte Minna das Legegeschäft fort,  machte das Kleinvieh brav wieder „Mist“. Jetzt wusste ich schon, dass das nicht wörtlich zu verstehen sei.

Am erfolgreichsten, ich hatte inzwischen eine eigene Familie, waren wir mit dem Mist vom Kleinvieh im hellblauen Fußball. Der war eine Sparbüchse aus Gummi. Monatelang hatten wir 5-Markstücke hinein gesteckt und uns schließlich unsere erste Anbauküche davon gekauft, hellblau versteht sich. Jetzt staunten die Kinder  als sie hörten, die Küche sei der aus dem Kleinvieh gewonnene Mist.                                                                                                                                                                                                  

 Ich frage Freunde:  Was fällt euch ein zu Kleinvieh macht auch Mist? Sie nehmen die Sache wörtlich und erklären, auch bei kleinen Sachen kann es Ärger, also Mist, geben. Sie kennen die Redewendung nicht und sehen nur zögerlich ein, dass Mist etwas Positives sein soll.                                                                                                                                                                                     Schauen wir also bei „Herrn Google“ nach, der meistens Rat weiß:                                                                                               Woher diese Redewendung aus dem 19.Jahrhundert stammt, ist nicht bekannt. Heute sagt  sie aus, viele kleine Schritte können zum Erfolg führen.           

 

 

 Die „Schwarze Küche“

Um 1780 wurde das älteste erhaltene Wohnhaus an der Alten Berliner Straße in Dahlwitz für den damaligen Dorfschulzen erbaut. Tief ducken sich die Fenster mit ihren grünen Läden unter dem riesigen Walmdach. Der Ortschronist erzählt, dass in der Mitte des Hauses noch die alte „Schwarze Küche“ existiert. Was ist eine schwarze Küche? Ich kenne nur die schwarze Köchin aus dem Kinderringelspiel, von der wir singend, im Kreis drehend wohl viele hundert male wissen wollten, ob sie noch da sei.

   Ich finde heraus, das ist eine Küche mit offener Feuerstelle in der Mitte des Hauses. Der Rauch zieht nach oben ab. -  Aber das kenne ich doch. -  Das gab es im Haus meiner Kinderjahre auf dem Fischland vor dem Darß.

   In Tischhöhe war ein Ziegelherd aufgemauert mit einem Feuerrost an der Stirnseite, auf dem die Tante Holz von der Miete im Hof und  Torf aus der Scheune aufschichtete und anzündete. Der Herd hatte eine eiserne Decke mit offenen Löchern. Dahinein wurden die Töpfe gehängt. Unten waren die schwarz berußt, dann kam ein  vorspringender Rand und nach obenhin der saubere Teil des Topfes. An einem großen Messingständer hingen unterschiedliche eiserne Reifen, mit denen die Tante die Feuerlöcher auf die richtige Topfgröße verkleinern konnte. Ein Loch war stets von dem riesigen Wassertopf besetzt. Wenn die Tante daraus Wasser mit der großen Schöpfkelle von der Wand entnommen hatte, füllte sie sofort aus einem Eimer auf der Wasserbank nach. Das Wasser schleppte sie aus dem Brunnen vom Hof mit einer hölzernen Tracht auf den Schultern ächzend  herein. War ein Gericht fertig, zerrte sie den Topf  mühsam mit langen Haken aus dem Feuerloch und hielt ihn auf der heißen Herdplatte warm. Nach dem Essen verschloss sie die Feuerlöcher mit allen Ringen und fegte den Ruß, den die Topfböden hinterlassen hatten, mit einem Büschel aus Gänsefedern wieder ab. Durch den  gemauerten Rauchfang über dem Herd suchte sich der Qualm, wenn das Feuer richtig brannte, es nicht regnete und der Wind nicht zu stark blies, seinen  Weg,  umwallte dabei die Würste und den Schinken vom letzten Schweineschlachten und verpasste  ihnen einen Geschmack, wie ich ihn herzhafter nie wieder gekostet habe.  War das Wetter eher ungemütlich, blieb der Rauch, drückte sich in  die Küche und brannte in den Augen. Wir Kinder machten uns davon, aber die Tante harrte aus. Kam der Onkel mit seinen Helfern vom Feld, stand das Essen auf dem Tisch.

Ob die Dahlwitzer „ Schwarze Küche“ hier in dem alten Haus Nummer 65 noch in gleicher Weise genutzt wird ?  Ich kann nicht glauben, dass heute noch jemand die Mühsal meiner Tante auf sich nimmt, wenn er doch die Möglichkeit hätte,  die Hitze des Herdes durch einen kleinen Schaltergriff zu erzeugen. Vielleicht traue ich mich eines Tages, an der kleinen Tür zu klingeln und zu fragen, -  aber wohl eher nicht. Die neue Mode der Reporter, ihre Nase aufdringlich in die Privatangelegenheiten der Menschen zu stecken, will ich nicht mitmachen.

 

 

Ab und zu etwas Verrücktes

Weder geistige Verwirrtheit noch das Verrücken von Gegenständen will ich ansprechen, eher das Verlassen bekannter Normen, also lässig, einfallsreich, unbeschwert auch schräg und verschroben sein. Im Alter lässt die Lust am Ausgeflippten nach, müde Knochen und Ruhebedürfnis bremsen, die Experimentierfreude der Jugendzeit nimmt ab.Du hast nur ein Leben, sollst machen, wonach dir der Sinn steht, musst nicht mit dem Strom schwimmen, kannst die eigene Meinung offen aussprechen und auch mal nein sagen.

Dennoch, mit Vergnügen denke ich zurück an all  die wunderbar freudigen Verrücktheiten vor 60 Jahren.

Eigentlich wollte ich Lehrer für Deutsch und Sport werden, aber da hätte ich zu Hause in Rostock studieren und weiter unter der Fuchtel der Mutter stehen müssen. Deshalb griff ich, ohne zu wissen was mich genau erwartet, sofort zu, als das Angebot „ Biologie, Werken“ vom Pädagogischen Institut Güstrow kam.  Besonders geschickt war ich nicht mit Hammer, Feile, Lötkolben, Falzbein und Schraubzwinge. Später konnte ich das Fach zugunsten von Sport und Deutsch sehr schnell weg organisieren. In der Familie aber hieß es immer mit spitzbübischer Miene, wenn der Vater etwas reparieren sollte, „ich denke, du hast Werken studiert?“

   Die Zeit in Güstrow war die sorgloseste Zeit meines Lebens, unbekümmert, nur mir selbst verantwortlich, hatte ich drei wunderbare Jahre. Isa hat das, als bei der Abschlussveranstaltung die Beststudenten ausgezeichnet wurden, so ausgedrückt, „so`n blödes Buch kann ich mir selber kaufen, dafür haben wir hier drei Jahre `ne ruhige Kugel geschoben.“

  Wir kamen zu dritt aus Rostock, Inge, Sprudel und ich, mir aber fiel sofort ein schönes braunhaariges Mädchen in kariertem Hemd und Jeans auf, das ich von Anfang an mochte, Schigu. Eigentlich hieß sie Renate Pfeif. Niemand von uns hat sie so benamt, so wie auch mich alle nur Atze riefen.  Ich bewunderte sie, wenn sie allein für sich tanzte, sang oder pfiff. Für mich war sie die verkörperte Freiheit, so wäre ich gern gewesen und ich ahmte sie sogar beim Pfeife rauchen nach. Es hat uns Spaß gemacht, auf den Mensastufen sitzend, Leute mit unserem Auftreten zu schockieren. Manchmal sind wir dabei übers Ziel hinausgeschossen. „Das ist mir in meiner ganzen pädagogischen Praxis noch nicht passiert“, staunt Frau Müller, die Wirtin der Studentenkneipe, als wir verärgert, ich weiß nicht mehr warum, zwei doppelte Wodka bestellen und grimmig unsere Pfeife dampfen.

   Schigu gibt sich gern raubeinig, hat aber einen herzensguten Kern. Sie trägt ein leuchtend rotes Leintuch mit weißen Punkten, das ich bestaune. Da nimmt sie eine Schere, teilt das schöne Stück und stolz trage ich nun auch ein Gepunktetes. Viel hatte sie nicht an materiellen Gütern. Vielleicht ist gerade das ein Grund für ihr selbstloses Geben. Meine Tante Frieda ist vom Geteilten so beeindruckt, dass sie uns zu Weihnachten zwei rote Wolltücher schenkt und nun laufen wir auch winters rot behalst herum.

   Aus unserem Wohnheim kann man die Wiesen und den Sumpfsee sehen. Wir nutzen das Gelände zu allen Tages- und Nachtzeiten. Vor dem Frühstück klettern wir über den Zaun und laufen zum Baden. In der Vorlesung erzählt der Psychologe genüsslich, dass er heute Morgen schon zwei junge Damen überm Zaun hängen sah. Jeder kann an zwei rot anlaufenden Köpfen sehen, wer das war. Und er verkneift sich auch keine Auswertung, als wir nach der Vorlesung aus dem Fenster springen, um das lästige Anstehen beim Mittagessen zu vermeiden.

   Seltsame Sitten haben die Jungen, Peti beleckt seine Hand, dann knallt er sie auf seinen Pudding, „meine“, sagt er und grient uns an. Harry steht auf dem Stuhl, dann auf dem Tisch und wickelt drei Kilometer Faden von seiner Roulade. Eugen kauft seine Socken drei Nummern zu groß, zerlatscht die Spitze, kippt die zerlöcherten einmal um und ein zweites mal. So hat er für ein Geld drei Paar Socken.                                                                                                                                                                                              Andererseits sind wir wohl auch nicht ganz harmlos. Peti steht vor mir, schaut auf mich herunter, fuchtelt mit seinem Zeigefinger, „so`n freches Mädchen wie du ist mir noch nie begegnet.“ Na, ich weiß nicht! Ich erinnere mich nur, dass wir tote Mäuse an ihren Schwänzen vor den Fenstern der Jungen baumeln ließen. Peti will FDJ- Beitrag kassieren. Deshalb werden wir doch bei so schönem Wetter nicht aus dem Garten gehen. Er schnappt sich in unserem Zimmer  Sigrids Unterwäsche, die sie zum trocknen ausgebreitet hat und winkt uns damit zu. Wir stürzen nach oben, bezahlen, bevor er sich neue Dummheiten ausdenken kann.

   Einmal rennen wir von Zimmer zu Zimmer und kündigen, ohne mit jemandem vorher zu sprechen, eine Nachtwanderung an und staunen, alle kommen. Mit Taschenlampen geht es zum Sumpfsee. Sternenschein, das Käuzchen schreit, eine Igelmutter mit einer Reihe rosafarbener Jungen im Gefolge kreuzt unseren Weg. Die Jungen machen Feuer und wir singen leise zu Roberts Mundharmonika.

   Unser Haus wird von Minna Kuhblum betreut. Wenn sie ihre Treppe geputzt hat, sagt sie, „haste mal `ne Ziejaredde, mech piebt de Longe.“ Schigu kreischt vor Vergnügen. Das vergeht ihr aber, wenn Minna durch die Gänge tobt, „wer hat mich wieder von de Blumen jeklaut, ich wer` eich bei die „HJ-Leitung“ melden, wer` ich eich.“ In solchem Fall lachen wir erst, wenn Minna weg und die Gefahr vorbei ist.

  Wenn am Abend alle im Bett liegen, geht das Lachen weiter. Wir erzählen uns Witze, jeder seinen und immer den Gleichen, ich immer von Keiner, Doof und Niemand. Der Wortlaut wird nie verändert. Sigrid sagt jedesmal, „ meins ist kein Witz sondern eine wahre Geschichte: meine kleine Nichte sitzt in der Küche, warum weinst du, -  ich habe Beutelkuchen mit Wind tot gedrückt.“

  Schigu kommt herein, „bei mir ist eine eingezogen, die  heißt  Iwe  Bier  und  hat   gefragt,„ seid ihr auch kindisch, ich bin kindisch.“ Waren wir, waren wir, haben das damals aber anders gesehen und uns über die kindisch- kindlich- Verwechslung schadenfroh amüsiert. Schadenfroh waren besonders einige unserer sieben Jungen. Wie haben sie gelästert über den „Schnellfotografen“, der seinen neuen Fotoapparat in Erwartung eines fertigen Bildes geöffnet hatte. Heute hat`s sich überholt, genau wie die Wertung, „der ist so blöd, der holt die Milch in Tüten.“ Ich höre noch immer  Eugen und Robert hämisch, egal was wir taten, „ ach die Schnallen!“ Auch den Ringelnatter-besprühten Erich haben sie behämt, weil er ob des Gestanks vorzeitig unsere Exkursion abbrechen musste. Wie sie jede Note, die schlechter als ihre war, gefeiert haben. Noch zwanzig Jahre später schafft einer von ihnen es nicht, meinen Erfolg auf dem VIII. Pädagogischen Kongress gelassen zu nehmen. „Na mit deiner Schwärmerei von Kuckuck und Nachtigall im Wuhletal hast du aber gelogen.“ Wieder denke ich nur, dämlicher Neidhamme,l“ und lasse mich wie damals nicht beeindrucken.

   Schigu und ich leihen im Sommer ein Zelt und machen uns mit dem Fahrrad auf zum Darß. Da wir unterwegs einen „ Platten“ beheben müssen, ist es fast dunkel und wir sind erst in Wustrow. Also hoffen wir auf Pummel. Tatsächlich ist sie zu Hause und kann auf unsere klägliche Bitte, „ Pummel zeig uns einen Wald, wir schaffen es heute nicht mehr!“ reagieren. Mühsam bauen wir das Zelt auf und wollen schlafen. Da haben wir aber nicht mit unserer Angst allein im dunklen Wald gerechnet. Wir beschließen, abwechselnd am Zelteingang mit großem Küchenmesser Wache zu halten. Als Schigu wacht, schlafe ich nicht, ich sorge mich, „hoffentlich schläft sie nicht ein.“ Als ich wache, sorge ich mich wieder, „hoffentlich schläft sie nicht ein, denn wenn einer kommt, trau ich mich nicht zuzustechen.“ Als es hell wird, sind wir beide froh. Es ist keiner gekommen.

   Das Institut erhält einen Neubau. Als Werkstudenten werden wir bei Maurerarbeiten eingesetzt. Gemeinsam mit Schigu ziehe ich eine Zwischenwand aus Ziegeln hoch. Als wir aus der Pause zurückkommen, lächeln uns die Maurer freundlich zu. Aha, sie sind also zufrieden mit unserer Arbeit. Wir müssen jetzt Mauerwerk verfugen. Die Wasserwaage und die breite Maurerkelle geben wir ab. Richtfest, stolz erzählen wir, „diese Wand haben wir hochgezogen“. Und jetzt kommt es heraus. Der Polier sagt, „ eure Mauer war so schief, die hätte nicht Stand gehalten, die Lehrlinge haben sie heimlich in der Pause eingerissen und neu aufgebaut.“ Unser Lachen klingt etwas gequält.

   Beim Landwirtschaftspraktikum wird uns viel abverlangt, besonders das Melken fällt mir schwer, kümmerlich tropft die Milch aus  meiner Kuh. Geduldig steht sie, wedelt mit der Schwanzquaste nach Fliegen, dann dreht sie den Kopf zu mir „ was wirtschaftest du da?“       Das Essen auf dem Dorf ist reich und deftig und kommt uns ausgehungerten Studenten recht. Wir sind an schmale Mensakost gewöhnt und werden sonst nur in der Güstrower Pferdekneipe auf dem ausgebeulten Sofa satt. Ich habe mir den Bauch so mit Bratkartoffeln vollgeschlagen, dass ich abends beim Landfilm meinen Rock öffnen muss. Das Licht geht wieder an, ich stehe in der ersten Reihe, der Rock fällt -  zum Vergnügen der hinteren Reihen. Das erinnert doch sehr an unsere Fahrt mit dem LKW über den Schweriner Schlossplatz, auf dem Weg zu den Mehrkampfmeisterschaften der GST. Wir lästern über den Rock einer jungen Frau. Er lugt unordentlich unter ihrem Mantel hervor, „so läuft man doch nicht herum!“ Da wird der Rock immer länger und landet auf dem Pflaster. Schön lacht es sich, wenn man selbst nicht betroffen ist.

   Der Kontakt zu meinen Studienfreunden reißt nie ab. Wir schmunzeln immer noch über die alten Kamellen und neue kommen hinzu. Tochter Antje macht Ferien bei Schigu. Danach soll uns das Kind in Wismar übergeben werden. Die beiden verpassen den Zug. Sie stellen sich an die Straße, Schigu hält ein Auto an und erzählt uns begeistert, dass es der Klützer Leichenwagen war, mit dem sie pünktlich angekommen sind.

    Sie schreckt vor nichts zurück, wenn sie etwas erreichen will. So wie sie mit ihren spontanen Einfällen auch immer wieder Freude auslöst. Zur Hochzeit schickt sie uns einen Zwiebelzopf, Brot und Salz. Als kürzlich mein Knie streikt, gibt sie jede Menge Ratschläge, wie ich mir  helfen soll und schickt mir ein selbst gewebtes Fell von ihrem letzten Schaf. Es ist nicht nur die Wärme des Fells, die mir gut tut.                                                                

 

 

Bleibe ganz bei dir,

sagte mein Vater, als ich beim Frühstück plötzlich zu weinen anfing, weil ich wegfahren musste, um meine erste Lehrerstelle in Osterburg, einer mir völlig fremden Kleinstadt, anzutreten.

Fragend sah ich ihn an:

Bleib dir selbst treu, steh zu dem was du denkst und fühlst, glaube an dich. Wehr dich, wenn dir jemand unrecht tut, selbst wenn es sich um deinen Vorgesetzten handelt. Lass dich von Menschen, die anders denken als du, nicht von deinem Weg abbringen. Daran habe ich mich gehalten. Mein Vater hat an mich geglaubt, hat mir Kraft gegeben.

Bleibe ganz bei dir, leicht war es nicht immer. Es musste gelernt werden auch dann seine Meinung zu sagen, wenn man damit anecken konnte, besonders wenn jemand kritisiert werden musste.

Die Schüler erwarteten freundliche Zuwendung, ehrliche Bewertung und damit Hilfe für sich. Von antiautoritärer Erziehung halte ich bis heute nichts. Jeder Gärtner bereitet den Boden, wässert und beschneidet sein Bäumchen, damit es Früchte trägt. Unerzogene Kinder sind Spiegel ihrer Eltern. Der Begriff Affenliebe trifft die Sache nicht, ist eine Beleidigung der Affenmütter, die sehr wohl ihre Jungen erziehen.

Mit zunehmendem Alter ist es schwerer geworden, seine Meinung zu äußern. Früher war ich nicht still, wenn etwa eine Frau ihren Sprössling grob herumstieß. Heute sage ich nichts mehr, wenn das Kind neben der handysüchtigen Mutter quengelt und sie ihm statt Zuwendung ein zweites Handy gibt. Ich würde auch jugendliche Pöbler nicht mehr ansprechen, wie noch vor zehn Jahren im Flughafen: „Neben Dir schäme ich mich, Deutsche zu sein!“ Damals reagierte der Getadelte erschrocken und wurde still. Heute hätte ich Angst, eine gelangt zu kriegen.

Heißt das nun, ich gebe mein Lebensprinzip auf?

Ich bin älter und notgedrungen vorsichtiger geworden, suche andere Wege, ganz bei mir zu bleiben. Gelegenheit gibt mir dazu der Ernst- Busch- Chor, der seine unerschütterliche Weltsicht in zahlreichen Konzerten  kundtut. Wir werden mit singen die Welt nicht verändern, aber wir können nachdenklich machen und unsere Zuhörer bestärken.

Bleibe ganz bei dir, gilt immer noch? Man kann das nicht uneingeschränkt anwenden.

Wir leben in einer veränderten Zeit mit verbohrten, verhetzten, böswilligen Personen. Ihnen darf man nicht empfehlen, an sich zu glauben und von ihrem Weg nicht abzuweichen. Mit ihrer falsch verstandenen Art von Treue wähnen sie sich immer auf der richtigen Seite, schaden  der Welt und den Menschen, egal ob Russe oder Bayer, Mann oder Frau, Christ oder Moslem, Kind oder Greis, Flüchtling oder alteingesessener Stammtischbruder. Sie wollen keine Argumente, sind nicht einmal bereit welche anzuhören, geschweige denn, darüber nachzudenken.

Immer noch ganz bei meinem Vater, hänge ich mein Mäntelchen nicht nach dem Wetter.

Wie erstaunt war ich, als 1989 viele den angesagten Wind erwischten und die Gelegenheit zum Karrieresprung nutzten. Jedenfalls war zuvor nicht zu merken, dass sie anders dachten als redeten.

Aber hat sich an dieser Windhörigkeit bis heute etwas geändert?  

Schwerste Glaubwürdigkeitsprobleme verursachen bei mir die Politiker, die meinen den richtigen Wind erwischt zu haben und ihre Fahne nach ihm ausrichten.

Statt die Ursachen für die Verrohung der immer mehr verwahrlosenden Gesellschaft zu bekämpfen, doktern sie an den Erscheinungen herum und erreichen  -  nichts.

Ich bin müde geworden, werde dennoch nicht zurückweichen, meiner einmal gewählten Partei treu bleiben, auch wenn sie mir das nicht immer leicht macht, da sie oft ihre Kräfte in Richtungskämpfen vergeudet anstatt Sturm zu blasen.                                                       

 

 

Schule zwischen 6 und 60

Ich wurde in den ersten Monaten des II. Weltkrieges geboren. Als der Krieg beendet war, kam ich in die Schule.

Zusammenhänge über Schuld, Zustimmung, Schweigen, Ablehnung und Widerstand habe ich viel später begriffen, eine Ahnung etwa als die dünne, schlecht gekleidete, barfüßige Marta in unsere Klasse kam. Die Lehrerin drückte das Mädchen an sich und sagte mit erstickter Stimme, „seid lieb zu ihr, sie ist aus dem KZ gekommen.“

In der unteren Etage unseres Wohnhauses in Rostock wird nach dem Krieg in ehemaligen Büroräumen eine Schule eingerichtet. Das gefällt mir nicht. Ich wäre gern in ein anderes Haus, eben eine richtige Schule gegangen. Eine Schultüte bekomme ich nicht, der Krieg ist gerade vorbei. Stattdessen gibt mir die Mutter ein paar Zuckermarken und ich darf mit der Nachbarstochter Eis essen gehen. Meinen Ranzen hat die Mutter aus einer alten Tasche beim Sattler nähen lassen. Fibel, Rechenbuch und Schiefertafel gibt es von der Schule. Ja die Schiefertafel, eine Plage ist das, du kannst dir bei den Schulaufgaben noch so viel Mühe geben, immer ist alles halb abgelöscht. Im Zeichenunterricht bin ich fein raus, verwende die Rückseite alter Rechnungen meines Vaters. Alle meine Bilder werden rot und blau. Der Großvater hat mir einen dicken zweiseitigen Zimmermannsbleistift angespitzt. Meine Mutter ist auch  nicht zufrieden, Neulehrer Schulz ist ihr zu jung. Sie denkt wohl an ihren alten Lehrer in Ostpreußen, der, alle Jahrgänge in einem Raum, die Kinder mit Strenge und Rohrstock dirigierte. Geschlagen wird normalerweise nicht mehr, dennoch erlebe ich davon eine Kostprobe. Wir hocken, weit über vierzig Kinder in einem Raum. Lehrer Schulz sagt, „wer jetzt noch mal dazwischen redet, kriegt einen Denkzettel.“ „Denkzettel, was ist das,“ beflüster ich Rita. „Du bist die erste, Edda komm her“! Freudig stürze ich nach vorn und - erhalte eine schallende Ohrfeige. Das soll ein Denkzettel sein? Ich bin zutiefst enttäuscht.

Nach dem 4. Schuljahr kommen wir doch noch in eine richtige Schule

Lernen, Prüfungen nach der 8. und 10. Klasse, Abitur. Was ist geblieben von dem angesammelten Wissen? Vieles ist in den Fächern meiner Kopfkommode verstaubt, vergessen oder wird verwundert hervorgekramt. Manches wurde in den vergangenen 70 Jahren gebraucht aber nicht als Schulwissen  wieder erkannt. Das Leben hat gefordert und wundertütig hat der  Kopf  Antworten ausgeschüttet. Wo war es versteckt, wo kam es her? Ich weiß es nicht. Ein bisschen Denken habe ich gelernt und meine Weltsicht  hat bei guten Lehrern  in der Schulzeit ihre Wurzeln.

Unser Deutschlehrer hat ursprünglich Theologie studiert. Was für ein Glück, dass er es sich anders überlegt hat. Er scheint alles zu wissen, spricht mit uns über Gott und die Welt, überzeugt uns mit „Faust“ genauso wie mit hebräischen Schriftzeichen an der Tafel oder Hinweisen an die Jungen - in Abwesenheit der Mädchen versteht sich-, „wenn beim Schülerball die Ausgeguckte schon aufgefordert ist, tanzt mit einer, die sonst keiner holt.“

Neben meinem Vater ist er es, der es versteht, meine Freude an der Literatur und mein Gespür für die deutsche Sprache zu entwickeln und mich, wie Strittmatter sagt, „empfindlich uff die Wörter“ zu machen, selbst Lehrerin zu werden, um mit freundlicher Strenge Kinder zu erziehen, Ihnen zu helfen, die Welt zu verstehen, was nach 1990 nicht so  einfach war.

Was aus Marta geworden ist, weiß ich nicht.

Seither ist weltweit immer weiter Schreckliches geschehen, Elend, Not, Krieg. Man muss mit jungen Menschen darüber reden, sie wollen es.

Als meine letzte 10. Klasse mit mir das Tagebuch der Anne Frank gelesen hat, bittet sie mich, mit ihnen den Film „Schindlers Liste“ anzusehen. „Wollt ihr darüber sprechen?“ frage ich am nächsten Tag.  Ihre Antwort macht mich froh. „Nein, wir haben verstanden. Aber fahren Sie bitte mit uns in die Gedenkstätte nach Sachsenhausen.“        

 

  

Habe ich alles erreicht?

Vorbemerkung: das Beamen ist die fantastisch-utopische Fortbewegung, bei der der menschliche Körper in seine Atome zerlegt, in einem Computer gespeichert, dann mit einem Richtstrahl an einen anderen Ort bewegt und in seiner ursprünglichen Form wieder materialisiert wird.

Im großen Ahorn turnt geschickt eine Blaumeise, sucht nach Futter, hängt mit dem Bauch nach oben und lässt ihr feines „tsi, tsi, tsi“ hören. Versteckt unter der Rinde hat sie in dem filzigen Nest aus Moos, Tierhaaren und Federn sieben Eier ausgebrütet. Für dieses Jahr hat sie alles getan, nun lebt sie im Augenblick und denkt über Weiteres nicht nach.

   So betrachtet, kann ich als Mensch vielleicht sagen, im Augenblick habe ich etwas erreicht, aber alles? Da hätte ich keine  Wünsche mehr, lebte in einer Erstarrung, die nichts mehr hervorbringt, wäre schon tot. Etwas erreichen kann der Mensch nur mit anderen – er braucht seine Märchen. Wir hatten davon schon einen Zipfel gepackt:

   Es gab einmal ein Land, in dem die reichen Geldsäcke nichts mehr zu sagen hatten. Die Gutsherren waren enteignet, der Boden aufgeteilt unter den Landarbeitern. Jedes Kind konnte lernen, studieren und alles werden: Arbeiter, Wissenschaftler, Künstler. Kranke wurden kostenlos behandelt. Männer und Frauen bekamen gleiches Geld für gleiche Arbeit.  Keiner sorgte sich um die Zukunft, weil jeder Arbeit hatte. Brötchen kosteten fünf Pfennig, eine schöne Neubauwohnung mit drei Zimmern mieteten wir für neunzig Mark. Das Schönste aber war, die Menschen gingen freundlich und warmherzig miteinander um.

 Es ging nicht gut aus. Es war ein Versuch. Die Geschichtsschreiber in hundert Jahren werden ihn vielleicht gerecht beurteilen.

   Aber soll das nun für alle Zeiten ein Märchen gewesen sein? Angesichts  des Unrechts auf der Erde, verunsichert durch die wachsende Zerstörung der Umwelt, gewarnt durch immer größere Klimakatastrophen frage ich besorgt meinen Sohn: Wohin führt das, gibt es einen Ausweg?

   Da antwortet er, die Genialität des menschlichen Geistes und das unendliche Universum bieten alle Möglichkeiten. Wenn wir erst einmal wirklich beamen können, wenn wir jede Information über jedes Objekt haben, es zerlegen und wieder aufbauen können, wird es keine Krankheiten mehr geben, weil das gesunde originale Abbild eines jeden Menschen gespeichert und jederzeit wieder abrufbar sein wird. Wenn das beamen schneller als mit Lichtgeschwindigkeit funktioniert, könnten wir beliebig in Raum und Zeit wandern.

Sprachlos sehe ich ihn an und dann sage ich:

 Wieso eigentlich nicht, haben nicht kreative Geister wie Jules Verne Dinge voraus gesehen, die heute Wirklichkeit sind! Und was antwortet zu meiner Verblüffung der Sohn? An soviel geniale  Vorausschau bei einem einzigen Menschen glaube ich nicht, das waren zu viele richtige Treffer, der hat das alles schon erlebt. Ich denke, er, Jules Verne kam aus der Zukunft, war ein Zeitreisender!                                                                                                                                                                                          

Habe ich alles erreicht? Die Frage muss wohl heißen, haben die Menschen alles erreicht? Ganz sicher nicht, aber sie werden immer wieder nach neuen Zielen streben. Und ich?                                                                                                                                  Ich bin die Blaumeise; für den Moment habe ich etwas geschafft, hab etwas aufgeschrieben. Nun warte ich ab, was noch kommt.                                                                      

 

 

Abschied

Ist das Ihr Fahrrad, das da im Geräteraum herum steht, fragt der Nachbar?

Ja es ist meins. Es steht da schon zwei Jahre mit einer Unterbrechung, dem Versuch, es nach einem Sturz wieder zu benutzen, ein Fehlschlag.

Ich schiebe das  Sportrad bis zur nahen Grünanlage. Immer noch ist es leicht und schmal, aber war es schon immer so hoch? Verstohlen schaue ich mich um, niemand zu sehen. Nach unsportlichem Aufstieg von links mit dem Fuß über den Rahmen auf die rechte Pedale tretend, setze ich mich schaukelnd in Bewegung  der harte Sattel  drückt, ich habe sofort Sorge, wie ich gefahrlos anhalten und absteigen werde. Das Sportrad hat keinen Rücktritt. Kaum wage ich loszufahren. Nach hundert Metern schwanke ich immer noch, ziehe die Bremse, halte und steige ungeschickt mit beiden Füßen zugleich ab. Noch scheint mich keiner gesehen zu haben, es geht schiebend zurück.

Wie stolz war ich  auf mein schnittiges Diamant Rad, was für ein Glücksgefühl, wenn der Fahrtwind mir um die Nase wehte. Vor mehr als vierzig Jahren war ein kleiner Extrasattel mit Fußstützen am Lenker befestigt, so dass die kleine Antje vergnügt mitfahren und die Welt bestaunen konnte. Im Sommer radelten wir  zum Baden an den Orankesee und später gemeinsam mit dem  Vater und dem kleinen Peter an die Ostsee. Wenn der  Kleine bei der  Heimfahrt einschlief, hielten wir an, legten ihn ins Gras am Straßengraben, setzten uns zu dritt dazu und warteten, bis er wieder munter wurde. Nur einmal, als uns  ein Wolkenguss überraschte, fuhren wir ohne Pause weiter. Der Junge wachte nicht auf und fing erst zu Hause  an zu weinen über die Nässe: „Das war ich nicht!“

Später nutzte ich das Rad, um in Hellersdorf problemlos zur Arbeit zu fahren. Unser Hausmeister, ein gelernter Fahrradmechaniker, überprüfte und ölte Jahr für Jahr mein Fahrrad und sagte, als ich nach der Wende fragte, ob ich mir ein neues extravagantes, wie jetzt in Mode gekommenes  Fahrrad zulegen solle: „Auf keinen Fall , das ist ein gutes DDR Diamantrad aus Chemnitz, ein besser laufendes, zuverlässiger  funktionierendes,  finden Sie nicht!“

Jetzt steht das Rad also herum, ist den Nachbarn im Wege.Für mich taugt es nur noch zum philosophieren:                               

-Kann ich mich nicht mehr gut bewegen, weil ich das Rad nicht benutzt habe?                                                                              -Dreht  sich das Rad nicht mehr, weil ich mich nicht mehr gut bewegen kann?

Mein liebes altes Fahrrad kann nichts dafür, dass ich es nicht mehr genutzt habe und  hat es nicht verdient, rumzustehen, einzustauben und langsam zu verrosten.

Ich verabschiede mich von ihm.   

 

 

Das Missgeschick.

„Heute will ich mit dem Boot raus, die Reusen im Bruch am See kontrollieren und Ihr dürft mitfahren!“, sagt Onkel Willi beim Frühstück.

„Ihr“, das sind meine Mutter, mein kleiner Bruder und ich.

Alle beeilen sich mit dem Essen und freuen sich auf die Bootstour, los geht´s.

Der Onkel in hüfthohen Gummistiefeln schreitet zügig voran, ihm folgt die Mutter .Wir trippeln nach und wundern uns über die Riesenstiefel. „Wasser hat keine Balken“, lacht der Onkel.

Das hätte er lieber nicht sagen sollen, der Bruder wird langsamer, bleibt ein paar Schrittchen zurück.

Am Steg liegt der breite Ruderkahn, Fischer Willi löst die Leine am Heck des Bootes, setzt sich auf die Ruderbank, gibt mir seine Hand, ich springe hinein und setze mich ganz vorn in den Kahn.

„Immer herein in die gute Stube!“, fordert der Onkel den Bruder auf. Zögerlich nähert der sich, besieht sich den Kahn, die Riemen, schaut auf den Onkel und sagt: „Lieber nicht Herr Willi!“

Der lacht, die Mutter packt den Jungen, hebt ihn hoch. Mein armer Bruder schreit, sie setzt einen Fuß auf die Bordkante, übergibt den Kleinen, der wird vom Onkel mit festem Griff ins Boot gezogen, bevor das Heck vom Steg abtreibt.

Unsere Mutter verliert den Halt, stürzt zwischen Boot und Steg ins Wasser. Pitschnass taucht sie wieder auf. Der Onkel lacht, lacht und lacht. Für uns ist die Bootsfahrt beendet.Er rudert allein davon.

Es dauert und dauert, die Mutter ist längst getrocknet. Der Onkel kommt nicht zum Mittagessen, er kommt auch nicht zum Abendbrot. Es klingelt es an der Haustür. Da steht der Kutscher vom Mühlenhof: „Ich habe hinten im Bruch auf einem Baum einen Kerl hocken sehen, wahrscheinlich ist sein Kahn abgetrieben, euer Willi muss ihn rausholen!“

„Das wird der Willi selber sein!“, sagt die Tante, eilt zum See, ihren Mann zu retten.Mein kleiner Bruder flüstert mir zu: „Das ist seine Strafe!“                                     

                        

 

Grüße

Was für ein trüber langweiliger Winter! Schmutziggraue Wege, Straßen und Plätze , verhangener Himmel, feuchte Kälte, tagelang. Das drückt auf´s Gemüt.

Ich blättere in Strittmatters Tagebüchern und stoße auf mutlose Stimmungen. Er spricht von sich in der dritten Person als vom alten Mann, der von Zipperlein geplagt, sich nicht entscheiden kann zwischen seiner Liebe zu den Pferden und seinem Drang schreiben zu müssen.

Das Fernsehprogramm ermüdend, mit der Fernbedienung zappe ich durch die Sender und bleibe in einer Dokumentation hängen, Polarnacht in Spitzbergen. Jedes Jahr zur gleichen Zeit erwarten die Einwohner im Tal von Longy ear byen die Sonne. Sie zeigt sich nach langer Polarnacht, schiebt sich für einen Augenblick über einen Felsgrat. Dick vermummten Menschen, Minius  27 zeigt das Thermometer, schreien, lachen, tanzen, sind im Freudentaumel. Wie haben sie diese dunkle Zeit überstanden? Sie sprechen von künstlichem Licht, Lebertran und erhöhter Arbeitsintensität.

Dagegen sind unsere kurzen Tage der reine Luxus.

Nachts wache ich auf,  Sturm tobt ums Haus, rüttelt am Balkongitter, das Wetter schlägt um.

Am Morgen leuchtet der Himmel, strahlend blau.Da hält es mich nicht länger in meiner Stube. Draußen empfängt mich eisiger Wind.Am Ende meiner langen Straße klettert die Sonne über den Horizont, wirft lange Schatten. Der meine lässt mich staunen , reicht über Gehweg und Hof bis in die Wiesen hinter dem Haus, dünn ist er, dünn,scheint nicht zu mir zu gehören.

Ähnlich verwundert war ich vor Jahren als in der Sahara um meine Füße herum nur der winzige runde Schatten meines Hutes sichtbar war, Zenitstand der Sonne.

Mein Weg heute schwingt in weitem Bogen hin zu den Haselsträuchern. Gelb leuchtende Kätzchenwiegen sich, winken im frostigen Wind. Ihr seid früh dran in diesem Jahr!                                                                                                                                              Plötzlich bricht die Stille, hoch in der klaren Luft kreist der Bussard und lässt sein grelles Biä, Biä, Biä erschallen, ein Stockwerk tiefer das heisere Gekrächzte der Nebelkrähen. Die lassen erst ab, als der Bussard abdreht, im Sonnenlicht verschwindet.                   

  Am Ende des Weges hocke ich mich auf die äußerste Kante einer Bank, halte die Nase ins Licht, wie schön, Sonne.

Einmal hat die Sonne mich beunruhigt, das war 1961. Zwar war ich darauf vorbereitet, eine Sonnenfinsternis von fast 90 % zu erleben, doch außer der teilweisen Verdunklung der Sonne hatte ich mir nichts vorgestellt. Aber damit hatte ich nicht gerechnet,es wurde rasch dämmrig und plötzlich verstummten die Vögel, beklemmende Stille. Nach wenigen Minuten verlor sich der Schatten, mit ihm die ängstlichen mittelalterlichen Gedanken, und ich hörte wieder das Geschwätz der Vögel

Wieder zu Hause, erzähle ich der Tochter von Sonne, Haselkätzchen und Bussard.Leise sagt sie, das war Papa, er wäre heute 75 Jahre alt geworden.                                                 8.2.2015   

            

 

Bom cboHok   - Da ist das Klingelzeichen!

Anna hat die russische Sprache nie richtig erlernt. Der Anfangsunterricht bei der Russischlehrerin, die wir heimlich Mascha nannten, glich eher einer Märchenstunde. Mascha war herzensgut, erzählte von der grauslichen Hexe Babajaga, vom fernen Sibirien, von Väterchen Frost, von palastartigen Stationen der Moskauer Metro. Wenn die Kinder sie dann noch nach dem russischen Winter, dem Leben in der Taiga oder gar nach Leo Tolstoi  fragten, fing sie an zu erzählen. Sie erzählte, erzählte und vergaß, was sie vorgehabt hatte.

Dann, mit Beginn der 9. Klasse kam Herr S., in die Klasse, begrüßte und berieselte pausenlos und scheinbar ohne Luft zu holen die Schüler mit klangvollen russischen Lauten. Anna staunte und ließ sich von seiner melodischen Rede einlullen. Da sie nichts verstand, besah sie in aller Ruhe sein Gesicht , die hohlen Wangen, durch deren Haut das dunkle Barthaar schimmerte, die buschigen Brauen über den freundlichen Augen, die hohe Stirn, den ergrauten struppigen Haarkranz. Insgesamt wirkte er etwas düster, Hemd, Krawatte, Anzug, selbst die Schuhe in einem Anflug von Grau. Am Ende der Stunde verabschiedete er sich freundlich: Doswidanja!

Er musste aber doch gemerkt haben, dass die meisten Schüler ihn nicht verstanden hatten. So dachte er sich In der nächsten Zeit zahlreiche Methoden aus, die Sprache zu vermitteln, mit neuen Heften, schriftlich, mündlich immer wieder anders. Anna bestaunte seinen Ideenreichtum. Das half ihr jedoch nicht, sie hatte bei Mascha den Anschluss und damit die Freude an der Sprache verloren. Es blieb für sie bei wenigen Redewendungen und bruchstückhaftem Wissen.

Niemand wäre auf die Idee gekommen, den freundlich ruhigen Lehrer zu ärgern, es wurde höflich geschwiegen und Anna war bemüht, ihre Langeweile nicht durch Gähnen zu verraten.

Wenn aber das Pausenklingeln ertönte, rief die ganze Klasse, auch Anna:

Bom cboHok - es klingelt!

Viele Jahre später, Anna war bereits nach einem langen erfolgreichen Arbeitsleben in Pension gegangen, stand sie noch einmal vor einer Klasse und begrüßte die Schüler. Die antworteten nicht. Nehmt die Bücher heraus! Sie reagierten nicht. Anna redete ihnen geduldig zu, doch sie sahen durch sie hindurch. Ihr stockte der Atem, die Kehle wie zugeschnürt. Was machte sie falsch? So etwas hatte es doch noch nie gegeben, wie sollte sich aus dieser Situation retten? War sie zu alt? Hatte sie ihr Handwerk schon verlernt?Es wäre das Letzte für sie gewesen, sich beim Direktor zu beschweren. Was war zu tun, wie sich aus diesem schrecklichen Albtraum retten?

Da klingelt der Wecker. Erlöst sagt sie: Bom cboHok !    

 

Alle Jahre wieder

Seit einigen Jahren bleibe ich Silvester mit zwei Katzen allein in meinen vier Wänden und bin damit zufrieden. Sie regen sich kaum auf, wenn sie mich sehen und hören können. Ich fühle mich von der Knallerei weniger belästigt, halte die Fenster geschlossen, ziehe die Gardinen zu,  bin ein Silvestermuffel.

 Schon als junges Ding haben mich die Knallerbsen, die die Jungen uns vor die Füße warfen, mächtig geärgert. Später wurde es anders, wir haben mit Freunden gefeiert, sind mit Ihnen verreist. Wenn aber gegen Mitternacht Raketen abgeschossen wurden, bin ich auf Abstand gegangen.

Zur Jahrtausendwende waren wir an der Weser, aus dem besonderen Anlass sahen wir uns draußen das Feuerwerk an.  Dummerweise hatte ich keinen Mantel angezogen und wurde mit einer langwierigen Halsentzündung bestraft.

Geärgert habe ich mich immer über das verpulverte Geld und noch einmal am Neujahrsmorgen über liegengebliebene Reste, Kisten und Flaschen.

So war es auch in diesem Jahr, dann aber wird alles noch schlimmer als gewöhnlich.

Der Familienhund meines Sohnes ist vor der Knallerei geflohen und bis zum Neujahrsabend nicht zurück gekommen. Flint ist ein kleiner Mischlingsrüde, sehr anhänglich, gehorcht auf´s Wort und ist der erste Hund vor dem ich mich nach schlechten Kindheitserfahrungen nicht fürchte.

Sofort setze ich mich hin, verfasse und vervielfältige Suchmeldungen, die der Sohn am anderen Morgen in der Umgebung anbringen will.

In der Nacht wache ich immer wieder auf. Wo irrt der arme Kerl jetzt umher? Ist er hungrig? Friert er? Hat ihn jemand aufgenommen und will ihn heimlich behalten? Wird sich jemand auf unser „Vermisst“ melden?

In der Frühe muss ich zur Chorprobe aus dem Haus. Ich kann mich nicht recht konzentrieren und ich mag auch mit niemandem über den verschwundenen Hund reden.

Wieder zu Hause, schnarrt mein Handy. Der Sohn hat geschrieben, nur ein Wort: Gefunden.

Aufatmen, später höre ich, der Anruf im zweiten Tierheim hatte Erfolg. Erleichtert fährt er nach Wesendal, den Hund abzuholen.

Der ist völlig verstört, durstig, hungrig, seine Pfoten wund gelaufen. Er schläft sofort im Auto, dann weiter zu  Hause in seinem Korb.

Hoffentlich vergisst der Hund das schreckliche Erlebnis und wird wieder der Alte.

Ich fühle mich In meiner Eigenschaft als Silvestermuffel bestärkt. 


 

… kehr wieder um      

Im Hoppegartener Gemeindesaal habe ich mich in die erste Reihe gesetzt, schräg vor den Flügel, ich will Dirk Michaelis hören und sehen. Da ist er und an seiner Hand Giesela Steineckert.                                                                                                                           Jedes ihrer Worte erreicht mich, rennt offene Türen ein. Die kann was und wie sie vorträgt, phantastisch, denke ich neidlos.        

 Sie erzählt eine wahre Geschichte von einem zwölfjährigen Jungen, der sie anrief, um sich von ihr bei einem Aufsatz über eines ihrer Gedichte helfen zu lassen. Sie riet ihm zu zweifelnden Fragen. Eine Zeit später erhielt sie den Anruf seiner Lehrerin, die ihr erzählte: Der sonst schwächelnde Junge hat eine Eins geschrieben und seine Klasse sehr beeindruckt. Die Schüler fragten. wie er das geschafft habe. Antwort: Ich habe Giesela Steineckert angerufen! ( Raunen bei uns im Saal ) Als dann Heinrich Heine für den nächsten Aufsatz angesagt war, meinte ein anderes Kind: Rufen wir den doch gleich an. Wir Hörer lachen schallend. Und dann kommt ein resignierender Nachsatz von der Steineckert. „Das kann ich gar nicht vor jedem Publikum erzählen, es ist traurig, aber es wird nicht überall verstanden.“ Ja, ja die bundesrepublikanische Bildung, denke ich.        

Ich mag die Steineckert, aber hergekommen bin ich wegen Dirk. Als er sein erstes Lied à capella singt, führt er mich um Jahre zurück. Da bleibt sein Blick an dem meinen hängen, er stutzt und sein Auge sagt: Ich kenne dich, aber wer bist du, er lächelt, wer bist du?                                                                                                                                                                                                           Ja, du kennst mich, besser noch kanntest du Peter,meinen Mann, er war dein Schuldirektor. Mit ihm war ich nach der Wende in vielen deiner kleinen Konzerte. Schwer war das damals, du hast nicht aufgegeben, gekämpft und uns Mut gemacht mit deinen Liedern.                                                                                                                                                                                                           Lange haben wir nach den Konzerten bei einem Glas Wein geredet, dein alter Schuldirektor, du und ich, haben uns über euren Lehrer „Schippe“ amüsiert, der dir eine „3“ in Musik aufs Abschlusszeugnis gab und jetzt so tut, als sei deine Musik sein Verdienst.   Deine Lieder haben mir immer viel bedeutet, nach Peters Tod habe ich sie lange nicht anhören können.                                                                                                                                                                                                                                                           Vorige Woche war ich zu  „Ostrock – Klassik“ und da warst auch du mit deinem Lied: „ Als ich fortging war die Straße leer, kehr wieder um“. Und siehe da, ich konnte es aushalten und Mut fassen, in dein Konzert zu kommen, die Ankündigungsplakate hatte ich schon lange beäugt.                                                                                                                                                                                    Einer deiner zwei Söhne ist mit auf der Bühne, bedient die Technik, er hat heute Geburtstag und du singst dein Sohneslied für ihn. Lied folgt auf Lied, alle vertraut, anrührend schön, mal Gitarre, mal Piano und immer dieser Wechsel mit der Steineckert. Wie Bälle fliegen die Einfälle hin und her. „Seht diesen schönen jungen Mann an, wär das nicht mein wunderbarer Sohn“, fragt die Steineckert. Ja wär er, auch der meine, er hat sich sein spitzbübisch jugendliches Wesen erhalten, spielt mit Tönen und mit uns. Das letzte Lied - und ohne das geht es auch nicht - wird das: „Fischlein unterm Eis“.

Nach der Vorstellung gehe ich zum Signiertisch: „Ich bin Edda Winkel, die Frau von Peter, der ist gestorben“. Da springt er auf: „Das weiß ich doch, das weiß ich, umarmt mich lange und nimmt gerührt mein Buch mit der Widmung: „Danke Dirk! Edda Winkel“, entgegen.                                                                                                                                                                                                   Mit nassen Augen mache ich mich davon, es möchten noch viele ein Autogramm auf ihrer erstandenen CD. Im Fortgehen höre ich Dirks Stimme: „Peter Winkel das war mein Schudirektorl…“

 

 

Die Strichmännchenklasse

Drei Tage vor dem Klassentreffen fällt mir ein vergilbter Briefumschlag mit Klappkarte in die Hand                                                   WIR WÜNSCHEN ALLES GUTE und danken Ihnen, Frau Winkel, Ihre 10. Klasse      Berlin, den 2.Juli 1971                                         Statt der üblichen Unterschriften eilen 11 rote und 21 blaue Strichmännchen über das Papier, meine Schüler, die ich sechs Jahre betreute, meine Klasse. Werde ich sie wieder erkennen? Es ist das erste Treffen. Ich bin unruhig.

In der Vorhalle sehe ich einen weißhaarigen Herrn und erkenne ihn sofort, er sieht aus wie sein Vater vor 38 Jahren. Es ist Dieter H., mein Hans Dampf in allen Gassen, stets zu jedem Unsinn bereit. Er zögert kurz, als ich ihn anrufe, wir umarmen uns und suchen gemeinsam nach den anderen. Es sind schon etliche da. Einige erkenne ich an ihren Augen, manche an Mimik und Gestik und andere an der Art, wie sie sprechen. Nur wenige muss ich mit Hilfe der mitgebrachten Fotos finden. Freudiges Stimmengewirr durchzieht den Raum, schnell stellt sich die alte Vertrautheit ein, die Jahre scheinen dahin zu schmelzen.

Die weiteste Anreise hatte Eva aus Budapest. Wieder lachen wir, weil sie damals in kürzester Zeit perfekt berlinerte, aber noch nicht Hochdeutsch reden konnte. An die Panik bei einer Reihenschutzimpfung muss ich erst erinnern. Bernd S., ein besonders kesser Schüler, fiel um und gab damit das Signal zur reihenweisen Ohnmacht. Zwischen umgefallenen Schülern im Arztraum, im Treppenhaus, im Sekretariat eilte ich entsetzt umher. Krankenwagen auf dem Hof, Notärzte und herbeigeeilte Eltern vermehrten das Chaos. Und warum? Wenn einer fällt, dann fallen wir alle!

Reihum erzählen sie, was aus ihnen geworden ist, dass sie Eltern, manche schon Großeltern sind. Manche haben sich vom ersten Partner getrennt. Das werte ich positiv, selbstbewusst haben sie ihr Leben in die Hand genommen. An etlichen hat die Wende genagt, aber alle haben sie ihre aufrechte Haltung bewahrt.

Ich bin stolz, dass sie frei und offen über Höhen und Tiefen Ihres Lebens berichten. Ich bin zu tiefst berührt, dass sie mich dabei ansehen wie vor vielen Jahren, als wollten Sie fragen: „Habe ich es richtig gemacht? Sind Sie zufrieden mit mir?“

Ja, ich bin zufrieden, ich bin glücklich über diese Begegnung, und ich sage es Ihnen auch. Als sich einer beschwert, weil ich nicht mehr „Du“ zu ihnen sage, entgegne ich, dass mir das auch komisch vorkommt und ich bitte sie, mich nun ebenfalls so anzureden. Meinen Vornamen haben sie ohnehin vor Jahren heimlich hinter meinem Rücken benutzt.

Meine liebe wunderbare Klasse, es ist der schönste Lohn für einen Lehrer, wenn er nach Jahren immer noch die Achtung und Zuneigung seiner Schüler erlebt. Es tut weh, wenn durch den Tod von Bernd und Ralf die biologische Reihenfolge nicht eingehalten wurde. Es erwärmt das Herz, wenn Rainer mir die vergessenen Blumen ins Haus bringt, und wenn Hannelore D. mir schreibt: „Dein Mann würde stolz auf Dich sein, Du wirst mir immer als eine sehr gute und verständnisvolle Lehrerin in Erinnerung bleiben.“

Danke Hannelore! Danke Euch allen!

 

Mutter Henschel 

„Seltsam im Nebel zu wandern!

Leben ist Einsamkeit.

Kein Mensch kennt den andern.

Jeder ist allein."          Das sagt Hesse. Hat er recht? 

Es klingt bitter. Aber manchmal kann man diesem Nebel entfliehen, mit einem geliebten Menschen, einem guten Freund, einer herzenzguten Nachbarin. So eine war Mutter Henschel.

Als ich vor einem halben Jahrhundert als frischgebackene Lehrerin, schüchtern und unsicher nach Osterburg reiste, um meine erste Stelle anzutreten, kam ich in einem winzigen Stübchen mit angrenzender Kammer unter. An dem niedrigen Türbalken schlug ich mir regelmäßig die Stirn. Um mich zu waschen, holte ich Wasser vom Flur und füllte es in eine kleine Blechschüssel im gusseisernen Waschständer. Die Toilette, das gute alte Plumpsklo auf dem Hof, musste ich über eine steile Stiege aufsuchen. Die schiefen, buckligen, mit Wasserfarbe gestrichenen Lehmwände meines Zimmers hinterließen regelmäßig ihre Spuren auf meiner Kleidung und glitzerten frostig im Winter. Das eiserne Bettgestell knarrte und die Schubladen der Kommode ließen sich nur mit größter Anstrengung aufziehen. Ich floh dieses mein erstes Zimmer so oft ich nur konnte, besuchte die anderen Absolventen, traf mich mit meinen Schülern. Jeden Morgen rannte ich, ohne den gusseisernen Ofen zu heizen und ohne zu frühstücken, sofort in die Schule.

Schon nach wenigen Tagen sprach mich die Nachbarin, eine alte, rundliche Dame an. Sie lächelte, strich sich die grauen Löckchen aus dem Gesicht und hatte die Hände in ihrer sauberen Kittelschürze versenkt: „So geht das aber nicht, ich höre Sie aufstehen und weggehen, Sie frühstücken wohl gar nicht? Mein Mann holt jeden Morgen Brötchen, er bringt Ihnen welche mit." Und nicht lange danach fragte sie: „Trinken Sie keinen Kaffee? Also ich koche sowieso eine Kanne voll, und Sie können davon haben." Wenige Tage später : „Das ist doch schade, wenn Sie da allein in ihrem Zimmer hocken, kommen Sie an unseren Tisch, dann wasche ich auch gleich das Geschirr mit ab." Dabei blieb es dann. Drei Jahre saß ich jeden Morgen bei Henschels am Frühstückstisch und ließ es mir gut gehen. Mutter Henschel war auch damit zufrieden. Sie hatte wieder jemanden zum Bemuttern. Vor Jahren war ihr dreijähriger Sohn von einem zurücksetzenden LKW überfahren worden, das hat sie nie verwunden. Die Tochter war schon lange auf und davon, im „goldenen Westen“ verschwunden.

Beim Frühstück blieb es nicht, kam ich aus der Schule, ging oft ihre Tür auf:

„Ich habe zu viel gekocht, essen Sie einen Teller mit?" Ich hatte den Verdacht, sie kochte absichtlich mehr. Wie hätte ich ablehnen können? Es hätte sie gekränkt. Manchmal wurde das Mittagessen schon morgens angekündigt. Vater Henschel sagte dann: „Heute gehe ich angeln" und sie: „Bring bloß keinen Fisch mit, ich hab davon die Arbeit." Aber er brachte, meistens Karpfen und sie machte leckeren Kartoffelsalat und briet den Fisch auf der Pfanne. Kam ich nach Hause, wurde ich von einladendem Duft begrüßt. Gebratener Karpfen mit Kartoffelsalat ist mir bis heute eine Lieblingsspeise.

Nach und nach wurde ich immer mehr in das Familienleben einbezogen, war bei Geburtstagen dabei, erfuhr den neuesten Kleinstadtklatsch und hatte eine Zuflucht. Wenn Mutter Henschel abends in die Nachbarschaft fernsehen ging, nahm sie mich mit und ich sah mir, ihr zu Liebe, den Blauen Bock und Hans Joachim Kuhlenkamp an.

In späteren Zeiten hatte ich noch oft nette Nachbarn, aber niemand ist mir so im Gedächtnis geblieben wie Frau Henschel, die gute Seele, die mir dem jungen Mädchen Mutterersatz war, den „Nebel für mich lichtete“.

Einmal waren wir an der Elbe und wollten, es dunkelte schon, zurück nach Osterburg. Dichter dicker Nebel kam auf, die Scheinwerfer durchdrangen nicht die weiße Wand. Der Beifahrer musste aussteigen und vor dem Auto her gehen, damit wir überhaupt noch fahren konnten.

Mein Leben ist so verlaufen, dass immer ein Beifahrer, ein Mensch auftauchte, wenn Nebel mich mutlos machen wollte, Freunde, Kinder, Nachbarn.

 

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